Wenn an diesem Sonntag (3. Oktober) in Brasilien die etwa 135 Millionen Wahlberechtigten einen Nachfolger (wohl eher: eine Nachfolgerin) für den populären Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva bestimmen, dann spielen Stift und Papier keine Rolle. In den Wahllokalen erwarten sie so genannte „urnas eletrônicas“ – Wahlcomputer. politik-digital.de-Vorstand Christoph Bieber war in Brasilien und hat sie sich genau angeschaut.

Die Wahlcomputer sind allerdings nicht das einzige Kennzeichen für eine „Medialisierung“ im „B“ der BRIC-Staaten, denn bereits der Wahlkampf war durchsetzt mit teilweise avancierter Internet-Nutzung. Zugleich machen sich aber auch die Probleme eines „Medienschwellenlandes“ bemerkbar, denn alte wie neue Medien dominieren vor allem in den urbanen Zentren des Landes die Kampagnen der Kandidaten. Auf dem Land oder in den unstrukturierten Armenvierteln der Städte bleibt die Modernisierung der politischen Kommunikation bislang noch weitgehend folgenlos. Das gilt mit einer Ausnahme: selbst in den entlegensten Gebieten des größten südamerikanischen Staates kommen die auf den ersten Blick eher altmodisch wirkenden Wahlcomputer zum Einsatz. Gesteuert und überwacht wird diese politisch-technische Großanstrengung vom Tribunal Superior Eleitoral (TSE), dem „Obersten Wahlgerichtshof“.

Auf der Website des TSE findet sich dazu eine umfangreiche (englischsprachige) Dokumentation der staatlichen Wahlbehörde. Vor allem das achteinhalb Minuten lange Video „Por dentro da urna“ („Im Inneren der Wahlurne“) bietet eine ausführliche Beschreibung der Elektronifizierung des brasilianischen Wahlsystems. Gewählt wird dabei auf technisch  nicht übermäßig komplex anmutenden Wahlgeräten, die über eine Zehnertastatur im Stile älterer Tastentelefone bedient werden.

 

Wahlcomputer in Brasilien

 

Neben der Bestätigungs- und Korrekturtaste gibt es auch die Möglichkeit der Stimmenthaltung durch eine so genannte „Weißwahl“ – die Taste „Branco“ ermöglicht die Erstellung eines „leeren Stimmzettels“. Gut nachvollziehen lässt sich der Vorgang mittels einer der vielen Simulationen. Im Angebot der Website der Wahlkommission findet sich eine englischsprachige Variante, die den Vorgang einer „angeleiteten Stimmabgabe“ gut dokumentiert: bei Fehleingaben werden dem Wähler entsprechende Hinweise mitgeteilt und es besteht die Möglichkeit zur Korrektur.

„Black Box Voting“

Im Gegensatz zu den Wahlgeräten mit einer Möglichkeit zur Nachverfolgung der Stimme („Voter Verified Paper Trail“, VVPT) oder dem Einscannen von Papierstimmzetteln („Precinct-Count Optical Scaner“, PCOS) wirken die urnas eletrônicas ein wenig rückständig. Durch die Speicherung und Auszählung der Stimmen allein durch den Wahlcomputer greift hier der zentrale Vorwurf von Kritikern, dass es sich hierbei um ein „black box voting“ handelt. Eine Überprüfung und Nachzählung der Stimmabgabe ist nicht möglich, eine „Öffentlichkeit der Wahl“ ist auf einfache Art und Weise nicht herstellbar. Der Oberste Wahlgerichtshof ist sich darüber durchaus im klaren und verweist dabei auf das Jahr 2002: damals waren versuchsweise mit einem Drucker ausgestattete VVPT-Systeme eingesetzt worden. Verschiedene Hardware-Probleme und die längere Dauer des Abstimm-Vorgangs führten jedoch dazu, dass fortan die vollständig computerisierte Variante zur Anwendung kommt.

Der Wille ist da

Gewissermaßen als Ausgleich verweist das Tribunal Superior Eleitoral auf verschiedene Maßnahmen zur Erhöhung der Transparenz. So erhalten 180 Tage vor der Wahl unter anderen die politischen Parteien, die Brasilianische Anwaltskammer oder Vertreter wissenschaftlicher Einrichtungen Gelegenheit zur Prüfung und Authentifizierung der Software. Deutlich erkennbar ist der Wille, mit Hilfe der Wahlgeräte eine sichere und stabile Wahl zu gewährleisten: „Es ist die grundlegende Absicht des Tribunal Superior Eleitoral, mit Hilfe des elektronischen Wahlsystems Vertrauen, Effizienz und Komfort für die Wähler, die Kandidaten und die politischen Parteien zu gewährleisten – damit werden Integrität, Rechtssicherheit und Transparenz im Wahlvorgang hergestellt.“

Der aktuelle Wahljahrgang zeichnet sich dabei durch eine weitere Maßnahme auf dem Weg zur volldigitalen Wahl aus: in 57 Stimmbezirken werden mit so genannten „Bio-Kits“ biometrische Personendaten erhoben (Fingerabdrücke und ein Portraitfoto), damit beginnt der Aufbau eines neuen Wählerregisters, das bis 2018 sämtliche Wahlberechtigte erfassen soll.

Parteien ohne Einfluss

Die institutionelle Organisation des TSE ist der wesentliche Grund für das straffe Modernisierungsprogramm. Formell ist der Wahlgerichtshof Teil der Judikative, lediglich zwei der sieben Richter werden durch den Präsidenten ernannt, drei sind zugleich Richter am Bundesverfassungsgericht (Supremo Tribunal Federal), zwei am Bundesgerichtshofs (Superior Tribunal de Justiça). Bemerkenswert sind hier auch die Verweise auf die „Parteienferne“ der staatsrechtlichen Konstellation: zwar können die Parteien den Prozess in sämtlichen Phasen der Wahlorganisation begleiten und beobachten, eine direkte Einflussnahme ist jedoch nicht möglich. Im internationalen Vergleich weist diese Variante der zentralen Wahlorganisation mit einer eindeutigen Kompetenzverteilung dem Wahlgerichtshof erheblichen Gestaltungsspielraum zu, der konsequent genutzt wurde, um die Medialisierung der Stimmabgabe voranzutreiben.

Der brasilianische Wahl-Weg blieb auch den Nachbarländern nicht verborgen – inzwischen findet in Lateinamerika ein reger Erfahrungsaustausch über die brasilianischen Landesgrenzen hinweg statt – bis hin zur Vermietung der Wahlgeräte. Der Wahlgerichtshof informiert auf seiner Website über ein starkes Interesse in mehreren Nachbarländern und verweist darauf, dass es unter anderem mit Argentinien, Mexiko und Costa Rico Abkommen über den Einsatz der „urnas eletrônicos“ gibt.