Ein Kontinent entdeckt die sozialen Medien – und folgt millionenfach seinen Staatschefs. In Lateinamerika treten Politiker in sozialen Netzwerken persönlicher, polemischer und populistischer auf als hierzulande. Ist der zum Teil despektierliche Schlagabtausch mehr als nur ein Spiegel der politischen Kultur?
Hugo Chávez besitzt keinen Facebook-Account. Dennoch erreicht der venezolanische Präsident auf dem Online-Reputationsindex Klout einen annähernd hohen Wert wie US-Präsident Barack Obama. Mit 91,3 von 100 möglichen Punkten wäre Chávez demnach der zweiteinflussreichste Politiker weltweit. Über den Sinn und die Zuverlässigkeit dieses und weiterer Indexes, die die Reichweite sozialer Medien in gesellschaftliche Einflussnahme übersetzen, wird gestritten. Im Fall Chávez erklärt sich der hohe Wert allerdings mit der beachtlichen Twitter-Aktivität, die der volksnahe Regierungschef seit dem April 2010 an den Tag legt. Als @chavezcandanga verfasste Chávez seither über 1.600 Tweets.
In dem ausgewiesenen Twitter-Land Venezuela, in dem jeder vierte ans Internet angeschlossene Bürger twittert (der Schnitt aller Länder liegt nach einer in der Wirtschaftswoche veröffentlichten Studie deutlich unter der Hälfte dieses Wertes), durchbrach der an Krebs erkrankte Präsident vor wenigen Wochen die Marke von drei Millionen Anhängern. Damit führt er mit Abstand die Liste lateinamerikanischer Staatschefs an, gefolgt von Mexikos scheidendem Felipe Calderón (@FelipeCalderon: 1,7 Millionen Follower) und Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff (@dimabr: 1,4 Millionen), die allerdings kurz vor Amtsantritt im Januar 2011 ihren bislang letzten Tweet verschickte. Der viertplatzierten Präsidentin Argentiniens, Cristina Fernández de Kirchner (@CFKArgentina), folgen auf Twitter über 1,1 Millionen Menschen, dicht gefolgt vom Kolumbianer Manual Santos (@JuanManSantos: eine Million).
Die Politiker Lateinamerikas haben allem Anschein nach das Potential der sozialen Medien erkannt, die nach einer Studie des US-Marktforschungsunternehmens Comscore in keiner anderen Region der Erde so häufig genutzt werden. Auch die Staatschefs Chiles, Ecuadors, Perus, Panamas und Costa Ricas vereinen hinter sich je hunderttausende “seguidores”, wie die Twitter-Anhänger auf Spanisch genannt werden. Der an der Spitze stehende Chávez nimmt weltweit sogar Platz 176 der Top Twitter User ein. Seine in nur zwei Jahren rasant gestiegene Twitter-Popularität war dem venezolanischen Präsidenten ein großzügiges Geschenk Wert: Die dreimillionste Followerin bekam ein Haus geschenkt. Bei dieser Gelegenheit rief er seine “Candangueros y Candangueras”, wie Chávez seine Anhänger nennt, in exakt den 140 maximal erlaubten Zeichen zur “Fortführung des Kampfes der Ideen auch in den sozialen Netzwerken” auf. Fast 2.000 Anhänger folgten dem Aufruf und verbreiteten die revolutionäre Botschaft per “Retweet-Button”. Die Zahl so wiederholter oder als Favoriten markierter Kurznachrichten ist konstant hoch bei dem in revolutionärem Rot gehaltenem Präsidenten-Account.
Doch was sagen solche Zahlen über die Politik in einem Land aus, in dem der Präsident seit 14 Jahren seine Macht zementiert und jede Form von Pluralismus Schritt für Schritt beschnitten hat? Ein Land, in dem man die markige Freund-Feind-Rhetorik eines um die Wiederwahl im Oktober fürchtenden Chávez gewohnt ist, die die auf die Umverteilung des Reichtums abzielende Sozialpolitik begleitet. Der von dem deutschen Soziologen und Chávez’ früheren Wirtschaftsberater Heinz Dietrich geprägte Begriff “Sozialismus des 21. Jahrhundert” hat die venezolanische Gesellschaft politisiert und in zwei Lager gespalten. Dementsprechend erntet die von der Spitze des Staates propagierte “bolivarianische Revolution” auch auf Twitter gleichermaßen frenetischen Zuspruch wie harsche Kritik.
@ chavezcandanga: Darf ich Ihr Soldat sein?
Das wird selbst an einer so harmlosen Kurznachricht wie der vom 17. Juni, anlässlich des Vatertags in Venezuela, deutlich. Auf die an alle Väter des Landes gerichteten präsidialen Glückwünsche giftete etwa Ramón Torreiro (@ramontorreiro11), ob Chávez denn den Kindern nichts zu wünschen habe, deren Väter Opfer von “Gewalt” wurden. Für die nicht weiter spezifisierte Gewalt machte er den Präsidenten verantwortlich: “Das Einzige, was du erreichst, ist Gewalt”, so das Fazit seines Tweets. Nur vier Minuten später bietet Dario Nievas (@darionievas) dem “Vater der heutigen Nation Venezuela” seine Gefolgschaft an. “Darf ich Ihr Soldat sein?”, fragt er den Präsidenten. Ähnlich polarisierte Wortgefechte finden sich auch in der Timeline anderer Politiker. Vor allem in Ländern mit tiefen historischen Konfliktlinien wie Argentinien oder Chile, in denen auch heute kein Konsens über ein politisches Wirtschafts- und Sozialmodell herrscht, ist der Umgangston oft aggressiv und respektlos.
Für den argentinischen Soziologen Pablo López Fiorito, Direktor des Umfrageinstitutes Ibarómetro, nimmt Twitter keinen signifikanten Einfluss auf die lateinamerikanische Politik. Twitter sei wie ein Meer, in das man seine Flaschenpost werfe, beschreibt López gegenüber politik-digital.de die Effizienz des Microblogging-Dienstes. Selten würde eine Nachricht “aufgenommen” werden, befindet der Dozent an der Universidad de Buenos Aires (UBA), dem ebenfalls 600 Leute auf Twitter folgen. Im Fall Argentiniens sei Twitter zudem kein repräsentatives Meinungsforum, sondern Artikulationsplatz einer “politisierten Mittelschicht, die nicht die öffentliche Meinung widerspiegelt.” Demnach könne man als Antworten auf die Tweets der Präsidentin Fernández de Kirchner nur Zustimmung ihrer Anhänger oder Ablehnung von Seiten ihrer Gegner erwarten. Meinungsvielfalt und alternative politische Ideen ließen sich in Argentinien eher auf Facebook finden.
Facebook öffnet neues Büro in Argentinien
Das weltweit beliebteste soziale Netzwerk ist auch in Lateinamerika maßgebend. Mit 114 Millionen Usern verweist es die Konkurrenten Twitter (27 Millionen) und das vorwiegend in Brasilien übliche Orkut (25 Millionen) auf die nachfolgenden Plätze. In Chile, Argentinien und Peru nutzen sogar über 90 Prozent der “Onliner” Facebook. Nur auf den Philippinen und in der Türkei ist der Schnitt höher. Im Vergleich dazu liegt der Anteil in Deutschland bei niedrigen 71 Prozent. Längst ist Facebook auf die Region aufmerksam geworden und hat nach Angaben des Nachrichtenportals agência latina press im März in Buenos Aires ein neues Vertriebsbüro für Südamerika eröffnet. Schließlich stellen die Lateinamerikaner immerhin 13 Prozent der weltweit 845 Millionen Facebook-Nutzer.
Erstaunlicherweise tragen die Social-Media-Gepflogenheiten der Staatschefs in der Region dieser Entwicklung noch nicht Rechnung: Twitter-König Chávez verweigert sich gänzlich, gerade mal ein paar tausend Menschen”gefällt” das Profil seiner brasilianischen Kollegin Rousseff. Calderón und Kirchner haben je knapp über 400.000 Anhänger gesammelt – deutlich weniger als die Zahl ihrer Twitter-Fans. So ergibt sich das Phänomen, dass die politische Elite in Twitter weniger die Möglichkeit zum Austausch und zur Vernetzung, als vielmehr zur Abgrenzung zu politischen Kontrahenten sieht. Twitter ist der Kanal, über den sich ein Politiker ein politisches Profil anlegt. Ein gutes Beispiel hierfür ist Kolumbiens Ex-Präsident Álvaro Uribe (@AlvaroUribeVel). Mit 9.977 Tweets ist er der aktivste Twitterer der Region. Selbst den aktivsten aktuellen Präsident, Felipe Calderón, lässt Uribe weit hinter sich.
Kaum ein Tag vergeht, an dem er nicht die Politik seines Nachfolgers Santos niedertwittert. Der Grund: Santos hat die Verbändelungen der Uribe-Minister mit den rechten Paramilitärs juristisch aufarbeiten lassen. Zudem ist dem Hardliner Uribe die Dialogbereitschaft seines Nachfolgers mit der FARC-Guerrilla ein Dorn im Auge. Mit aller Macht beschwört Uribe das drohende Chaos für Kolumbien – und hofft auf ein Verfassungsreferendum, das ihm 2014 die erneute Wiederwahl ermöglichen könnte. Für den kolumbianischen Publizisten Héctor Abad steht fest: Die über Twitter verschossenen Giftpfeile sind ein Rückschritt für die demokratische Kultur des Landes. Sein in der die New York Times co-publizierter Meinungsartikel zeichnet den ehemaligen Staatschef als macht- und rachsüchtig.
Ob man sich diesem Urteil anschließen möchte oder nicht, Uribes Nutzung des Mediums Twitter verrät einiges über das Verständnis, das lateinamerikanische Politiker von den Bürgern haben. Sie sind die Zuschauer auf der politischen Tribüne, die die sozialen Medien den Volksvertretern bieten. Der direkte Kontakt mit dem Volk – vormals vom Balkon oder über die staatlichen Rundfunkmedien inszeniert – findet hier seine volle Entfaltungskraft. Folgerichtig haben populäre Staatspräsidenten viele Follower – sie selbst aber folgen nicht und treten auch nicht in Interaktion mit den Anhängern. Chávez und Fernández de Kirchner etwa interessieren sich gerade mal für Tweets von 21 bzw. 46 anderen Nutzern. Schließlich sagen die Social-Media-Zahlen wenig über die tatsächliche Beliebtheit der Präsidenten aus. In der letzten Umfrage für den Demokratieindex Latinobarómetro erhielt Chávez nach Kubas Fidel Castro und Nicaraguas Daniel Ortega die schlechteste Bewertung unter 18 Staatschefs. Am besten schnitt im amerikaweiten Ranking Barack Obama ab. Aber der folgt schließlich auch selbst 676.756 Twitter-Accounts. Vielleicht gibt es dafür aber noch andere Gründe.