Die Türkei kommt auch über ein Jahr nach den Gezi-Protesten nicht zur Ruhe. Das liegt nicht nur an den Ereignissen im syrischen Nachbarland, sondern vor allem am autoritären Führungsstil der AKP-Regierung. Ob der digitale Wandel den Widerstand in der Zivilgesellschaft dauerhaft beflügeln kann, ist alles andere als klar.

Das Feuerwerk wird wohl ausfallen. Es ist der Morgen des 29. Oktober, des türkischen Nationalfeiertags, und als ich aufwache, habe ich eine Nachricht auf dem Handy, sie stammt von einer türkischen Freundin: „fireworks got cancelled, due to the mining accident“. Eigentlich wollten wir uns abends in großer Runde treffen, um dem berühmten Lichterspiel auf dem Bosporus beizuwohnen.
Ich bin ein deutscher Student und derzeit an einer Istanbuler Uni immatrikuliert. Dieser Artikel erscheint nicht unter meinem richtigen Namen, denn ich warte noch immer auf meine Aufenthaltserlaubnis – für die ich bisher umgerechnet mehr als 300 Euro Gebühren, frei erfundene „Strafen“ und die türkische Zusatzkrankenversicherung für Ausländer bezahlt habe. Der Staat Türkei belegt im Ranking der Pressefreiheit den unrühmlichen Platz 154 und steht damit noch schlechter da als Russland, Irak oder Libyen.
Bilanz einer zynischen Politik
Diesmal heißt der Ort Ermenek. Mindestens 18 Minenarbeiter sind hier infolge eines  Wassereinbruchs am 28. Oktober gestorben. Die Provinz reiht sich damit ein in die Liste verhängnisvoller Orte der türkischen Wirtschaft, zu der außer dem berüchtigten Zonguldak, dem Herz der türkischen Kohleindustrie, natürlich Soma gehört, der Ort, an dem erst im Mai dieses Jahres aufgrund nicht eingehaltener Sicherheitsvorschriften 301 Kohlekumpels ihr Leben ließen.
Der neuerliche Unfall wird Präsident Erdogan gleich doppelt ärgern: Nicht nur, dass er doch eigentlich am Nationalfeiertag seinen neuen Präsidentenpalast („Ak Saray“) in der Nähe von Ankara einweihen wollte – 1.000 Zimmer, mehr als der Buckingham Palace – und die schöne Party jetzt ins Wasser fällt, man wird ihm auch noch sein verhängnisvolles Zitat vom Mai wieder vorhalten, als er den Soma-Unfall mit dem Satz kommentierte, dass „solche Dinge nun mal geschehen“ und Unfälle zur „Natur der Arbeit“ gehörten.
So unfassbar eine solche Ausdruckweise anmutet, hat Erdogan damit faktisch Recht: Tödliche Unfälle, nicht nur im Bergbau, sind in der türkischen Wirtschaft auf bizarre Weise normal. Im Jahr 2003 ist der AKP gelungen, was lange Zeit niemand für möglich hielt: Eine dezidiert islamische Partei eroberte die Regierungsmehrheit in Ankara. Und danach betrieb sie, was in der Türkei schon immer möglich war: Sie vereinnahmte langsam aber sicher alle Ebenen des Staates.
Die „neue Türkei“
Ihr Programm lässt sich dabei auf folgende Formel bringen: Eine unheilige Allianz aus Islamismus und unbekümmertem Neoliberalismus. Da beides recht dehnbare Kategorien sind, rechtfertigt das eine stets das andere. Wer den wirtschaftlichen Aufschwung, den es unter dem AKP-Regime nach klassischen Maßstäben zwar gegeben hat, mit Hinweis auf Presse-, Rede-, Versammlungs-, Religions-, Vereinigungs- oder irgendeine andere Freiheitsform in Frage stellt, gilt der regierungstreuen Presse schnell als Neider, Islamfeind oder Extremist – in jedem Fall aber als vom Ausland gesteuert.
Ein paar jüngere Beispiele bringen die türkische Nachtwächterparanoia anschaulich auf den Punkt. Da soll eine Frau verurteilt werden, weil sie online ein Bild von sich gepostet hat, auf dem sie mit ihren High Heels auf einen Koran steigt. Die Frau verstand das als feministische Religionskritik, die türkische Staatsanwaltschaft als religiösen Hass. Für einen Karikaturisten, der den damaligen Ministerpräsidenten Erdogan als Aufseher über die grassierende Korruption darstellte, fordert die Staatsanwaltschaft neun Jahre Haft: Präsidentenbeleidigung. Bei einer Polizeiaktion im hauptsächlich von Kurden bewohnten Istanbuler Stadtviertel Tarlabasi kamen Ende September 15.000 Polizisten zum Einsatz. Es wurden immerhin sieben gestohlene Autos sichergestellt. Die Korruptionsaffäre dagegen, wegen der noch im Frühjahr vier AKP-Minister ihren Hut nehmen mussten, ist nach Versetzung der verantwortlichen Richter und Staatsanwälte nun beendet – alle Verfahren gegen die Verantwortlichen wurden Ende Oktober eingestellt.
Stell dir vor, es ist Revolution…
Nein, die Türkei ist kein Rechtsstaat. Und seit den Gezi-Protesten von vor einem Jahr befindet sich der Sicherheitsapparat ständig in einem Zustand latenter Hysterie. Damals wurde nämlich klar, dass diese Erkenntnis auch in der türkischen Gesellschaft mittlerweile weit verbreitet ist. Zwar haben sich die türkischen Offiziellen bemüht, die tagelangen massiven Proteste, die sich an dem geplanten Abriss eines Parks am Taksim-Platz entzündeten, als vom Ausland gesteuerten Putschversuch abzutun (als treibende Kraft galten wahlweise die CIA, die Juden oder die Lufthansa).
Doch wenn ich die größte Einkaufsstraße der Türkei, die Istanbuler Istiklal Caddesi hinunter laufe, dann werde ich auf Höhe des altehrwürdigen Galatasaray Lisesi, einer Schule aus der Zeit der Osmanen, nicht nur auf einen einsatzbereiten Wasserwerfer, sondern auch auf mindestens 30 gelangweilte Polizisten in meinem Alter stoßen, die sich mit dem Vergleich ihrer Maschinen- und Tränengaspistolen die Zeit vertreiben. Seitdem die Kurden um Kobane kämpfen und immer deutlicher wird, dass der neue Premierminister Davotoglu nicht viel mehr sein wird als Erdogans Befehlsempfänger, nehmen die innenpolitischen Spannungen wieder zu. Seit Oktober sind nach offiziellen Angaben über 30 Menschen bei Demonstrationen in der Türkei ums Leben gekommen.
… und CNN zeigt Pinguine
Gerade jetzt will die Regierung jedes Aufbegehren im Keim ersticken. Denn schon damals, im Sommer 2013, schien die sonst so übermächtige Regierung für einen kurzen Moment ganz hilflos. Auf dem Taksim-Platz standen nicht nur Linke, Umweltschützer und Vetreterinnen der Frauenbewegung. Da waren die Gewerkschaften, Nationalisten, Reform-Muslime, Kurden und sogar die Istanbuler Hooligans – und zwar die aus allen drei Fußballvereinen. Und sie waren gut organisiert: Während in den staatlich kontrollierten Medien kein Wort über die Proteste verloren wurde (CNN Türk zeigte am Abend der heftigsten Proteste eine mittlerweile sprichwörtliche Dokumentation über Pinguine), trat ein neues, mächtiges Medium in Erscheinung, über das sich die bunte Opposition organisierte: Twitter.
In der Woche der Proteste stieg die Zahl der Twitternutzer in der Türkei in unvorstellbarem Maße an. Wurden in den Wochen davor durchschnittlich acht Millionen Tweets am Tag aus der Türkei gesendet, waren es am 30. Mai, auf dem Höhepunkt der Proteste, 25 Millionen geworden. In der Nacht vom 31. Mai auf den 1. Juni 2013 wurden zwischenzeitlich mehr als zwei Millionen Tweets in der Stunde verfasst.
Twitter gegen Tränengas?
Das soziale Medium diente den Demonstrierenden untereinander nicht nur zur Kommunikation, sondern auch zum Selbstschutz: Während die Polizei bei den Protesten vor einem Jahr mit wachsender Brutalität vorging und schließlich auch den Tod von mindestens fünf Menschen zu verantworten hatte, informierten sich die Protestierenden größtenteils per Smartphone über Fluchtwege, tränengasfreie Bereiche und provisorische Lazarette – aber auch über Fragen wie „how to deal with teargas?“.
Wenn ich Anfang Oktober – inmitten von neuerlichen Unruhen, ausgelöst durch die unklare Haltung der AKP zu Kobane – auf den Bazar im benachbarten Distrikt gehen wollte, brauchte auch ich Twitter: Wo sprühen sie Tränengas? Wo soll ich langgehen? Twitter ist nicht nur schwieriger zu kontrollieren als die traditionellen Medien – es ist vor allem live.
Twitter wurde zu einem Erkennungsmerkmal dessen, was die Opposition hier heute noch gerne als einen „türkischen Frühling“ (in Anlehnung an den arabischen) verstanden wissen will. Anwohner und umliegende Geschäfte schrieben damals ihre WLAN Zugänge auf Transparente und unterstützen die Proteste „technisch“. Noch heute ziert in Beyoglu, dem zentralsten Stadtteil Istanbuls auf der europäischen Seite, der Twittervogel einige Hauswände – er trägt eine Gasmaske. Und tatsächlich stimmt wohl, dass ohne das Netzwerk und vor allem seine massenhafte Verfügbarkeit über Smartphones die Proteste niemals eine solche Dynamik hätten entfalten können.
Ist der türkische Frühling schon vorbei?
Vorboten dafür, wie das Internet das Demonstrieren, Protestieren und Aufbegehren, den zivilen Ungehorsam generell verändern und bestärken kann, hat es vor der Türkei schon in Tunesien und Ägypten gegeben. Doch während sich der Westen mit Blick auf diese beiden Länder mittlerweile die Frage stellt, ob denn die, die auf die Diktatoren folgen, immer so viel besser sind, ist die Lehre aus dem türkischen Fall eine andere: Denn so sehr sich die türkischen Oppositionellen bemühen, Gezi zu einer Art Geburtsstunde des Widerstands zu stilisieren, ist dies wenn überhaupt nur die halbe Wahrheit.
Denn es gilt auch: Das Imperium schlägt zurück. Zwar konnte die Digitalisierung in der Türkei einen Widerstand von zuvor unbekanntem Ausmaß organisieren. Allerdings wurde dieser mit dem ganz „traditionellen“ Mittel der nackten Gewalt auch erfolgreich wieder beendet, und alle, die im Entferntesten mit ihm zu tun hatten, werden von der Justiz mit Prozessen überzogen, selbst Mediziner, die verwundete Demonstranten versorgten.
Die Gezi-Proteste verdankten ihren kurzfristigen Erfolg auch dem Überraschungseffekt – in Ankara hatte wohl niemand damit gerechnet, dass ausgerechnet ein paar kümmerliche Bäume das Fass zum Überlaufen bringen würden.
Und das türkische Regime scheint sich geschworen zu haben, es nicht ein zweites Mal darauf ankommen zu lassen. Nur wenige Monate nach Gezi wurden im Kommunalwahlkampf 2014 erstmals Twitter und YouTube für einige Wochen gesperrt – weil auf den Plattformen Korruptionsvorwürfe gegen den Noch-Ministerpräsidenten Erdogan aufgetaucht waren. Dass das Internet nicht per se zur Befreiung der Völker erfunden wurde, zeigte sich dann leider auch darin, dass Twitter mit dem türkischen Staat einen Deal einging: Die vermeintlich verleumderischen Accounts sind in der Türkei nun gesperrt – Twitter aber nicht mehr.
Die Gezi-Proteste sind in der Türkei der Auftakt dazu gewesen, die politische Auseinandersetzung – die in der Türkei schon allein aus Tradition mit harten Bandagen geführt wird – noch weiter ins Internet zu verlagern. Syrien, Kobane, AKP und PKK: In der Türkei brodelt es weiter, analog wie digital. Wer dabei die Oberhand behalten wird, ist nicht klar, die Regierung aber hat die besseren Karten.
Und das Feuerwerk ist tatsächlich ausgefallen.
Bild:Ian Brown
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