Kanzlergerecht leicht erhöht auf einem Podest hat Bundeskanzlerin Angela Merkel das erste von RTL so genannte Townhall Meeting mit Leichtigkeit gemeistert. politk-digital.de-Vorstandsmitglied Christoph Bieber ist enttäuscht von der Sendung und kommentiert.

Sonntag abend, 21.45 Uhr, RTL: Bundeskanzlerin Angela Merkel ist zu Gast im Town Hall Meeting zum Auftakt der Debattensaison im Wahljahr 2009. Mit viel Aufwand hatte der Privatsender die „Bürgersprechstunde“ als Konkurrenzformat zu den Fernsehdebatten angekündigt, doch schon beim ersten Blick ins Studio wurde deutlich, dass das Sendekonzept nicht wirklich etwas mit der US-amerikanischen Variante des lockeren Plauschs von (mehreren) Politikern mit einem Bürger-Sample zu tun hatte. Für die Kanzlerin reserviert war ein bequemer Sitzplatz neben Moderator Peter Klöppel (der nach der Werbepause die Rolle mit Maria Gresz als Publikumsbetreuer tauschte), von dort aus beantwortete sie ruhig und sachlich die Fragen der geladenen Gäste.

Verregelt 

Angela Merkel, Town HallIn den USA gelten Debatten im Town Hall Style eher als lockeres und vergleichsweise friedliches Format, das sich auch in der „Bewegungsfreiheit“ der Politiker dokumentiert: John McCain und Barack Obama nutzten ihre Bühne im vergangenen Herbst für kleine Ausflüge in Richtung Publikum und setzten auch Mimik und Gestik weit offensiver ein als in den stärker verregelten Debatten unter Anleitung eines Single Moderator. Die Platzierung der Kanzlerin auf einem zentralen, leicht erhöhten Sitzplatz festigte ihre Position als Regierungschefin, der man besser nicht zu nahe kommt – entsprechend zahm waren die Fragen, manchen Fragesteller machte die hierarchische Kommunikationssituation zudem nervös.

Fragen abgesprochen? 

Im Kontrast dazu stand die Ruhe und Gelassenheit, mit der Angela Merkel auf die an sie gerichteten Fragen einging – bisweilen wirkte die Sendung dadurch arg choreografiert, in den Augen einiger Kritiker auch "gestellt" bzw. "abgesprochen". Neben den zahlreichen Einspielfilmen mit knappen Fragen aus der Fußgängerzone („Wird es eine Mehrwertsteuererhöhung geben?“) leistete dazu auch die zeitversetzte Ausstrahlung einen Beitrag, aufgezeichnet wurde bereits am Nachmittag im RTL-Hauptstadtstudio. Gerade zum Ende der Sendung häuften sich plötzliche Schnitte und klar erkennbare Kürzungen, gelegentlich belohnte verfrühter Studioapplaus die Merkel-Antworten und sorgte vor allem bei Twitter für hämische Kommentare.

"Live Chat" trotz Aufzeichnung 

Hatte sich die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung morgens noch über die „heiße Luft“ lustig gemacht, für die Deutschlands Polit-Twitterer sorgen würden, zeigte das Format erstmals während eines deutschen TV-Events seine Stärken. Nicht etwa der von RTL angebotene Live-Chat fungierte als Kanal für ein adäquates Online-Feedback, sondern der 140-Zeichen-Service verlängerte das Town Hall Meeting ins Internet (warum RTL während einer Aufzeichnung überhaupt einen „Live-Chat“ anbietet, bleibt das Geheimnis der Redaktion). Auf institutioneller Seite setzte die SPD mit „Nordkurve Live“ (vgl. @spdde; #nklive) der Kanzlerin einen „Fakten-Check“ entgegen, für die Grünen ging Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke mit bissigen Kommentaren an den Start (vgl. @SteffiLemke).

An dieser Stelle schon mal die Frage an die Vertreter der „etablierten Medien“ – wo war eigentlich der „professionelle Journalismus“ am späteren Sonntagabend? Jedenfalls nicht online. Die Wahlberichterstattung der überregionalen Tageszeitungen, aber auch der großen Fernsehsender gibt mit Blick auf die neuen Medien viele Rätsel auf. Während Parteien und Politiker mit schöner Regelmäßigkeit für ihre Bemühungen um eine zeitgemäße Nutzung der digitalen Medien (Stichworte: Twitter, Facebook, YouTube) getadelt werden, glänzen Spiegel Online, Süddeutsche, Welt, FAZ und andere durch digitale Enthaltsamkeit – vor allem dann, wenn es um das Experimentieren mit neuen Formaten geht (nebenbei: der Artikel der Sonntags-FAZ zu den peinlichen Performances im politischen Twitterland war noch nicht einmal online lesbar).

Kommentare auf Twitter 

Dass aber erst gar nicht das Gefühl einer digitalen Lücke aufkam, dafür sorgten die „ganz normalen“ Internet-Nutzer: während der Sendung liefen unter den im Twitter-Jargon „Hashtag“ genannten Kennzeichnungen „#townhall“, „#merkel“ und „#rtl“ zahlreiche Sofortkommentare auf, die sich unmittelbar mit dem Sendungsinhalt auseinander setzten (ein Nachlesen ergmöglicht die Twitter-Suche nach den entsprechenden Begriffen, z.B. http://search.twitter.com/search?q=%23rtl).

Entstanden ist auf diese Weise eine Ahnung davon, was durch die Zusammenschaltung eines bisher dispersen, am heimischen Bildschirm vereinzelten Publikums entstehen kann: ein kollektives Feedback auf ein durch das Fernsehen zentralisiertes Kommunikationsangebot, das einen unmittelbaren Rückkanal nicht kennt. Genau darauf basierten die spannendsten Twitter-Anwendungen im US-Wahlkampf des letzten Jahres – und nicht etwa in den automatisierten Veranstaltungshinweisen, mit denen der von deutschen Journalisten für seine digitale Omnipräsenz gefeierte Barack Obama seine Follower langweilte.

Keine "Bürgersprechstunde"

Was bleibt also vom Town Hall Meeting als neuem Format im deutschen Medienwahlkampf? Vor allem die Erkenntnis, dass der Titel der gestrigen Sendung mit dem Inhalt nicht wirklich etwas zu tun hat – auch wenn eine Einbindung der Bürger als „journalistische Unbekannte“ in das Sendekonzept geplant war, so hat sich RTL große Mühe gegeben, der Kanzlerin eine Diskussion im „protected mode“ zu ermöglichen. Beinahe alle unbequemen, unvorhersehbaren Momente, die eine echte „Bürgersprechstunde“ hätte bringen können, wurden von der restriktiven Formatierung durch den Veranstalter eingefangen. Heraus gekommen ist zwar ein durchbaus brauchbares Format politischen Informationsfernsehens, allerdings kein echtes Town Hall Meeting. Es war eine Interviewsendung mit multiplen Fragestellern, eine Mischung aus Laien- und Profi-Journalismus.

Derart geschützt durch ihre medialen Bodyguards zeigt sich die Kanzlerin gerne mal ihrem Volk – denn selbst wenn etwas schief gegangen wäre, die zeitversetzte Ausstrahlung ließ alle Türen zur nachträglichen Glättung offen. Auf das subversive Durchbrechen dieser Sendesituation muss die interessierte Öffentlichkeit mindestens bis zur nächsten Auflage (in Vorbereitung: Frank-Walter Steinmeier) warten – vielleicht twittert dann ja ein Bürger von der Zuschauertribüne im Studio. Schön wär´s.

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