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Beim Telegraphenlunch der Deutschen Telekom stand am 15. April nichts weniger zur Debatte als der kulturelle Wandel selbst. Verlernen wir in der digitalen Gesellschaft substanzielle Fähigkeiten oder sind Kulturtechniken wie die Handschrift und das Kopfrechnen letztlich entbehrlich? Dabei waren sich die zwei Podiumsgäste, Autorin Kathrin Passig und Design-Professor Reto Wettach, schon früh darin einig: Eine einseitige Betrachtung ist keine Lösung. Auch die negative Pointierung des Titelthemas mochten die zwei Impulsgeber nicht so recht mittragen.
So warb die Autorin des Buches „Internet – Segen oder Fluch“ Kathrin Passig schon zu Beginn ihres Beitrags für eine differenzierte Betrachtung des Themas. Jede Innovation habe ihre Kehrseite, und überall, wo neue Wege zu arbeiten, zu denken und sozial zu interagieren entstünden, würden alte Formen des Handelns verblassen. Passend zum Anlass stimme auch hier die alte Weisheit: “There ain’t no such thing like free lunch”.
Wir sollten uns angesichts des Wandels weder in reflexartige Verurteilungen noch in Lobeshymnen stürzen, sondern die stattfindenden Veränderungsprozesse genau analysieren. Ob das Bahnfahren oder der Buchdruck, jede neue Entwicklung stellte den Menschen auch vor neue Herausforderungen. Passig plädierte dafür, die Anpassungsleistungen der Menschen aufmerksamer zu betrachten.

Neukonfiguration statt Deformation

Auch Reto Wettach, Professor an der FH Potsdam und Gründer der Designschmiede IXDS, wandte sich klar gegen eine pessimistische Lesart der Digitalisierung. Zwar ließe sich durchaus eine gewisse Verarmung unserer körperlichen Fähigkeiten beobachten, es sei jedoch nur eine Frage der Zeit und der Kreativität, bis der Mensch lerne, sein gesamtes Potenzial im Internet und über Gadgets einzusetzen: „Ich bin nicht davon überzeugt, dass wir den Schatz, den wir als Menschen mitbekommen haben, voll ausschöpfen“. Mit der richtigen Technik, so der Designer, würden dem Menschen auch gänzlich neue Welten und Möglichkeiten der Wahrnehmung eröffnet werden.
Auch Innovationsreichtum und Experimentierfreude würden durch die Unverbindlichkeit der digitalen Lebenswelt drastisch zunehmen, obgleich Wettach sich auch skeptisch zeigte gegenüber einer Kultur, die nach dem Motto „Apfel-Z geht immer“ funktioniere. Risiko- und Verantwortungsbewusstsein würden in Zeiten vielfältiger Alternativen und permanenter Backups einem nicht unerheblichen Wandel unterzogen.

„Es ist anstrengender geworden“

Einen weiteren interessanten Punkt erreichte die Debatte, als Moderator Wieprecht (Radio Eins) seine Sorge um die Überforderung des menschlichen Gehirns durch die expandierenden und beschleunigten Informationsströme zum Ausdruck brachte. Klar sei auch dies ein ewiges Thema der Moderne, aber in der heutigen Zeit von umso größerer Bedeutung. Wo liegen beispielsweise die Grenzen menschlicher Aufnahmefähigkeit? Reto Wettach plädierte dafür, eine Balance aus Selektion, Oberflächlichkeit und Tiefgründigkeit herzustellen, um die Vielfalt an Information kreativ und variabel zu nutzen. „Das nötige Maß an Desinformation macht den Dialog spannend“, so seine These.

Die Unsicherheit aushalten

Insgesamt warf die Runde immer wieder interessante Schlaglichter und stellte wichtige Fragen zur Diskussion. Dennoch verpasste man es an der einen oder anderen Stelle, auf diese vertieft einzugehen. Stattdessen wurde über fehlgeleitete Navigationssysteme sinniert, Technikskeptizismus als typisch deutsch und konservativ verabschiedet und Kritik immer wieder mit den Einwänden gegenüber heute akzeptierten Entwicklungen gleichgesetzt, wie dem Zugfahren, dem Fernsehen oder der Tageszeitung. Auch die anschließende Zuschauerdiskussion zeichnete sich vor allem durch die von Kathrin Passig thematisierten verhärteten Fronten aus: Alt und jung, digital versus analog, Schriftkultur gegen Netzwelt. Am Ende bleiben viele gute Fragen und ein großes Fragezeichen.
Bild: NASA per Wikimedia Commons
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