In einer Podiumsdiskussion mit Jimmy Wales, Emma Carr, Sir David Omand u.a. erklärt Guardian-Journalist Luke Harding, die Diskussion um Massenausspähung sei nun beim britischen Bürger angekommen. Aber hat er damit wirklich Recht?
Genau ein Jahr ist seit jener ersten Titelgeschichte des Guardian, die auf den Enthüllungen Edward Snowdens basierte, vergangen. Snowdens „größte Angst“, dass niemand auf seine Veröffentlichungen reagieren würde, hat sich nicht bestätigt. “Ich habe bereits gewonnen“, erklärte er im Dezember. Die Jahresbilanz des Spiegels fällt dagegen eher düster aus: Snowden habe zwar die Welt erschüttert, „eine demokratische Auseinandersetzung mit der maßlosen Überwachungspraxis der USA und ihrer engsten Verbündeten“ haben die Enthüllungen jedoch bislang nicht nach sich gezogen. Dies trifft auf Großbritannien vielleicht mehr als auf alle anderen zu.
So war das Interesse der Briten am Thema Snowden und NSA die längste Zeit kaum bis nicht vorhanden – und das obwohl das britische Pendant zur NSA, der GCHQ (Government Communication Headquarters) an dem Spuk massiv beteiligt ist. Dennoch wagte Guardian-Reporter Luke Harding bei einer Podiumsdiskussion des New Statesman in dieser Woche zu behaupten, die Briten seien nun endlich aus ihrer verlängerten Teepause zurück und bereit, sich nun eingehender mit dem Thema zu befassen. Darüber, ob er damit Recht hat, lässt sich streiten. Izza Leghtas von Human Rights Watch beispielsweise ist entschieden gegenteiliger Ansicht.
Ursachen britischen Desinteresses
Emma Carr, ausführende Direktorin bei Big Brother Watch, gab in der Diskussion zu bedenken, dass das Interesse der Bevölkerung stark von der Art der Daten abhänge, über die berichtet werde. So seien beispielsweise die viel zitierten „Metadaten“ für die meisten Menschen schlicht zu abstrakt, um Empörung auszulösen. Tatsächlich war die in Großbritannien wohl am häufigsten diskutierte Geschichte jene über das massive Abgreifen von Screenshots aus Yahoo-Webchats. Die „Optic Nerve“ betitelte Affäre traf den Nerv der Britischen Bevölkerung, weil man sich eben unter ausgespähten Nacktfotos mehr vorstellen kann als unter Metadaten.
Jedoch gehen die Gründe für die britische Apathie weit über ein mangelndes Verständnis für die Terminologie hinaus. Zum einen, so glaubt Luke Harding, gebe es in England keine historischen Präzedenzfälle wie etwa in Deutschland. Ganz im Gegenteil: Eigentlich liebe England seine Spione (und hat sich außerdem an die ständige Überwachung durch bis zu 5,9 Millionen Überwachungskameras gewöhnt). Kulturelle Ikonen wie James Bond oder George Smiley gehörten im Verständnis der Briten zu den Guten. Sie verteidigen Land, Leute und natürlich die Queen – und springen zum Auftakt der Olympischen Spiele aus Hubschraubern.
Und ebenso wie Bond und Co beschützten eben auch die realen Spione des GCHQ Queen und Königreich, beschrieb Harding eine weit verbreitete Auffassung. Deren Überwachungspraktiken und die Geheimniskrämerei, die sie umgibt, seien zur Terrorabwehr unerlässlich – behaupten Vertreter der Regierung und der Geheimdienste. Erstere waren noch dazu an der Absegnung eben jener Programme beteiligt, die im Zuge der Snowden-Enthüllungen in die Kritik gerieten, und wollen sich daher nur ungern mit der Affäre befassen. Man kommentiere Details zu Geheimdienstoperationen nicht, lautet die offizielle Ansage, warne aber vor dem Schaden, der durch die Snowden-Enthüllungen entstanden sei: nämlich einer massiven Gefährdung der nationalen Sicherheit. Terroristen rieben sich bereits vor Freude die Hände. Ohne stichhaltige Beweise für diese Behauptung wird an das Vertrauen der Bürger appelliert.
Sir David Omand: Alles rechtmäßig
So meint Sir David Omand, der Ex-Chef des GCHQ, dass ein Jahr nach den ersten Snowden-Enthüllungen bekannt sei, dass alles, was die britischen Geheimdienste tun, rechtmäßig ist. Es gebe keine unrechtmäßige Massenüberwachung in diesem Sinne. Omand beruft sich dabei auf den Surveillance Commissioner, der dem GCHQ erst kürzlich eine weiße Weste bescheinigte. Zu Recht, schreibt Nick Hopkins im Guardian, aber nur, wenn man glaubt, der Gesetzgeber habe eine Datensammlung im Stile von Tempora im Sinn gehabt, als vor 14 Jahren der Regulation of Investigatory Powers Act (RIPA) erlassen wurde. Wohl kaum. Gesetze wie RIPA sind längst zu weit hinter der seit 2000 erfolgten „Datenexplosion“ (Harding) zurückgeblieben, um noch wirksam einschränken zu können, was die Exekutive darf – und was nicht. Zumal sich die Behauptung, es gebe in Großbritannien keine Massenausspähung, auf die, wie Emma Carr es nennt, weit verbreitete Lüge stütze, dass die Sammlung von Metadaten nicht in die Privatsphäre eingreift und damit konsequent verschweigt, dass Metadaten wesentlich aussagekräftiger sind als Inhalte.
Jimmy Wales‘ Vergleich der 30-tägigen Vorratsspeicherung von Kommunikationsdaten mit einer Installation von Überwachungskameras in britischen Wohnzimmern wies Omand als „absurd“ zurück. Schließlich schaue man sich die Inhalte ja nicht an. Sie würden lediglich von einem Computer gescannt, der dann relevante Fälle zur Untersuchung auswerfe. Überhaupt ziehe sich ein kategorischer Fehler durch die gesamte journalistische Berichterstattung. Massenzugriff („bulk access“) mit Massenüberwachung („surveillance“) gleichzusetzen sei ein journalistischer Taschenspielertrick. Und da offiziell alles legal ist, sei auch geklärt, dass die Beziehung zwischen Regierung und Bevölkerung durch die Veröffentlichungen nicht beeinträchtigt worden sei. Auch dieser Aussage möchte man lautstark widersprechen, besonders mit Blick auf das Ergebnis der Europawahl.
Gesetze? Fragwürdig!
Erschwerend kommt hinzu, dass Gesetze wie der Terrorism Act und der Official Secrets Act auf manchmal fragwürdige Weise zum Einsatz gebracht werden. So kam es im vergangenen Jahr wiederholt zu geradezu aberwitzigen Situationen: Der Guardian schrottete unter Aufsicht von Vertretern des GCHQ im eigenen Keller seine Computer, Chefredakteur Alan Rusbridger wurde vor einen Parlamentsausschuss geladen und gefragt, ob er sein Land liebe. Und der Partner des damaligen Guardian-Journalisten Glenn Greenwald, David Miranda, wurde neun Stunden am Flughafen Heathrow festgehalten. Außerdem gab es Forderungen nach einer Strafverfolgung desGuardian sowie eine parlamentarische Untersuchung zu dessen Beteiligung an den Snowden-Enthüllungen. Nicht umsonst rutschte Großbritannien im weltweiten Ranking zur Pressefreiheit ganze fünf Plätze ab.
Verträge neu aushandeln
Aber selbst wenn die Überwachung durch den GCHQ in welchem Sinne auch immer rechtens sein sollte, stellt sich die Frage, ob die Einhaltung der Gesetze wirkungsvoll überprüft werden kann. In jedem Fall hat Luke Harding sicher mit seiner Feststellung Recht, dass das Fortschreiten technischer Möglichkeiten die Gesellschaft vor eine völlig neue Situation stelle. Eine Debatte darüber sei ebenso dringend nötig wie Gesetzesreformen. Der „Vertrag“ der Regierung mit den Bürgern müsse, so Harding, komplett neu verhandelt werden.
Dass dieser Forderung mittlerweile sogar Mitglieder des britischen Parlaments zustimmen, mag man als gutes Zeichen verstehen. Ob die Briten jedoch tatsächlich aus ihrer Teepause zurück sind und sich die Diskussion in der Bevölkerung durchsetzt, muss sich noch zeigen. Sollten Großbritannien, Deutschland, den USA und anderen eine wirkungsvolle demokratische Auseinandersetzung doch noch gelingen, dann hätte Snowden in der Tat Recht: Dann hätte er gewonnen und wir mit ihm. Davon scheinen aber Großbritannien, Deutschland und die USA trotz vieler auch positiver Entwicklungen im Jahr eins nach Snowden noch weit entfernt.
Foto: edwicks_toybox/flickr (CC BY NC 2.0); skaliert