Beleidigungen, unsachliche Kommentare, Spam: Der politische Diskurs im Internet hat schon bessere Zeiten gesehen. Nur: Wie weist man digitale Unruhestifter am besten in ihre Schranken? Süddeutsche.de hat einen klaren Weg gewählt. Einzelne moderierte Diskussionen ersetzen die allgemeine Kommentarfunktion. Chefredakteur Stefan Plöchinger spricht über die Erfahrungen mit diesem neuen Konzept.
politik-digital.de: Im September 2014 haben Sie die Kommentarfunktion auf Süddeutsche.de deaktiviert und stattdessen zu Diskussionsforen über ausgewählte Themen eingeladen. Was ist Ihr Fazit nach rund fünf Monaten? Ist der Diskurs inhaltlich besser geworden?
Stefan Plöchinger: Ja: fokussierter, klarer, auch angenehmer lesbar, weil wir besser moderieren können.
politik-digital.de: Wie waren die Reaktionen seitens der Leser auf die Sperrung der Kommentarfunktion?
Stefan Plöchinger: Rund 200 Mails kamen an, die meisten fanden die neuen Foren auf der Homepage nicht. Natürlich haben sich auch einige beschwert, worauf wir mit Erklärungen reagiert haben, was wiederum nicht jeden erfreut hat – allerdings: 200 Mails bekommen Sie auch, wenn Sie eine Nachrichtenseite einem Relaunch unterziehen. Es war weniger als erwartet.
politik-digital.de: Ist das Deaktivieren der Kommentarfunktion nicht ein Maulkorb für die Leser und verhindert eine konstruktive Debatte im Netz?
Stefan Plöchinger: Es ist ja keineswegs so, dass bei uns nicht mehr diskutiert werden kann. Nur eben thematisch zu einzelnen Themen des Tages. Und das ist deutlich konstruktiver, zeigt unsere Erfahrung.
politik-digital.de: Wo sehen Sie die Chancen und Grenzen von politischem Diskurs in den sozialen Medien? Sind soziale Netzwerke und Kommentarspalten von Online-Medien überhaupt ein geeigneter Ort für politische Debatten?
Stefan Plöchinger: Die generelle Frage nach allen „sozialen Netzwerken und Kommentarspalten von Online-Medien“ kann und werde ich Ihnen nicht generell beantworten. Wir alle wissen zum Beispiel, dass auf Blogs durchaus sehr konstruktiv diskutiert wird, weil sich Menschen dort dem Blogger näher fühlen. Nachrichtenseiten gelten als anonymer, was natürlich Unsinn ist, aber vermutlich unterscheiden sich auch die Nachrichtenseiten untereinander noch mal. Die Grenze weg vom sinnstiftenden Diskurs ist vermutlich dort überschritten, wo Hunderte, vielleicht Tausende Leute notdürftig moderiert über alles und jeden durcheinanderreden oder -schreien dürfen.
politik-digital.de: Wird bei den von Ihnen vorgeschlagenen Diskussionsthemen auf einige Themen bewusst verzichtet?
Stefan Plöchinger: Nein. Wir hatten uns zunächst durchaus gefragt, ob hochkontroverse respektive trollstarke Themen wie Ukraine, Gaza und Islamfeindlichkeit in unserem neuen System überhaupt auf ein konstruktives Niveau gebracht werden können, in dem jeder nicht nur platte Vorwürfe und Unterstellungen macht, und natürlich ist es manchmal schief gegangen. Aber generell ist auch da die Erfahrung: Mehr Zeit für Moderation zu schaffen, hat uns bessere Moderationsmöglichkeiten und damit bessere Diskussionen selbst über diese Themen ermöglicht.
politik-digital.de: Hat sich die Diskussion im Internet generell in letzter Zeit verändert? Falls ja, glauben Sie, dass es sich um ein vorübergehendes Phänomen oder einen dauerhaften Trend handelt? Ist die Diskussion stärker emotional eingefärbt als noch vor ein oder zwei Jahren?
Stefan Plöchinger: Wir leben gerade in einer spannungsreichen Zeit, da kann ein solcher Eindruck auch mal vorschnell entstehen, aber selbst wenn ich es nicht gemessen habe – manche Ausfälle von Trollen, Verbohrten und anderen angenehmen Diskutanten, die im vergangenen Jahr aufkamen, hatte ich vorher noch nicht erlebt.
politik-digital.de: Auf Süddeutsche.de kann man unter einem Pseudonym mitdiskutieren, muss sich dafür aber mit dem echten Namen anmelden. Sind Sie der Ansicht, dass die Hemmschwelle bei anonymisierten Diskussionen sinkt und Leser eher extreme Meinungen kundtun?
Stefan Plöchinger: Das war schon immer so. Es gibt reichlich Forschung dazu, dass Pseudonymität Trollerei begünstigen kann – dass Trollerei aber vor allem von schlechter Moderation abhängt. Pseudonymität kann im Positiven auch dazu führen, dass sich Menschen an Diskussionen beteiligen, die zum Beispiel von persönlichen Erfahrungen erzählen wollen, aber diese nicht mit ihrem echten Namen verbinden wollen, um nicht auf ewig damit googlebar zu werden. Kann man nachvollziehen. Diese Regelung bei uns ist übrigens nicht neu, sondern gilt seit vielen Jahren.
politik-digital.de: Die neuen Diskussionen auf Süddeutsche.de scheinen recht sachlich und differenziert zu sein – diskutieren dort mittlerweile andere Menschen als früher oder gibt es Unmengen an unqualifizierten Beiträgen, die ihren Weg gar nicht auf die Seite finden?
Stefan Plöchinger: Nachdem wir die alte und die neue Nutzerschaft nicht systematisch verglichen haben, wissen wir nicht, wie viele alte Nutzer sich genau im neuen System neu angemeldet haben. Anfangs war es recht ruhig, jetzt ist wieder einiges los, es hat also der Diskussionslust mittelfristig nicht geschadet, was wir getan haben – im Gegenteil fühlen sich manche durch das höhere Niveau vermutlich erst angesprochen. Aber klar, das bedeutet auch, dass wir viele Beiträge ablehnen, die gegen die Netiquette verstoßen, Verschwörungstheorien verbreiten oder Ähnliches.
politik-digital.de: Wer moderiert die Diskussionen auf Sueddeutsche.de? Wurden dafür extra Stellen geschaffen?
Stefan Plöchinger: Ein Team von Freien unter Leitung eines Kollegen, den wir zu dieser Leserdialog-Reform fest angestellt haben. Wir haben auch die Dienstzeiten um ein paar Stunden die Woche ausgeweitet.
politik-digital.de: Die Kommentarfunktion auf Facebook ist weiterhin aktiv – werden die Kommentare dort auch moderiert und selektiert?
Stefan Plöchinger: Facebook macht einem das quasi unmöglich. Wir löschen dort regelmäßig extreme Beiträge und sperren Nutzer, aber bei 40 Postings am Tag kommen Sie da nicht jedem hinterher, zumal in der umständlichen Sortierlogik, die eben nicht auf Moderation ausgelegt ist. Faszinierend ist aber für mich, dass kaum ein Leser auf die Idee käme, uns für die irren Kommentare unter manchem Posting verantwortlich zu machen. Die Beschwerden richten sich viel stärker gegen Facebook und die Verfasser selbst. Insofern haben die Leute schon ein gutes Gespür, dass wir da keine ausgereiften Möglichkeiten des Eingreifens haben.
politik-digital.de: Was ist Ihre Prognose für die Zukunft? Welche Entwicklungen des politischen Diskurses im Internet halten Sie für denkbar?
Stefan Plöchinger: Auf manchen Seiten, die sich mehr Mühe geben, wird es hoffentlich mittelfristig richtig spannend, die Debatten zu verfolgen, so wie es – ehrlicherweise – die Forumsseiten in guten Zeitungen und Zeitschriften schon länger schaffen. Auf den anderen Seiten wird noch mehr Grütze stehen. Diesen Kollegen wünsche ich viel Glück; sie werden es brauchen, damit der Ruf ihrer Marke nicht mit vergrützt wird.
Bilder: Marc Wathieu, Jochen Wegner
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