China Fingerprint by Kurios CC0 via pixabayIn China wurde Ende letzten Jahres ein neues Kreditsystem eingeführt, das seine Nutzer die eigene Kreditwürdigkeit über soziale Medien teilen lässt. Dieses System wurde von privaten Unternehmen entwickelt, doch im Zusammenhang mit Plänen der chinesischen Regierung gibt das Anlass zur Sorge.

Spielend gute Zahlungsmoral

Es gibt eine Art der Motivationssteigerung, die in immer mehr Bereichen eingesetzt wird: Gamification. Gamification bedeutet, dass Elemente, die normalerweise in Computerspielen auftauchen, auch in anderen Lebensbereichen genutzt werden. Das können Fortschrittsanzeigen sein, die zeigen, wieviel Prozent eines Formulars man schon ausgefüllt hat, oder Highscores, bei denen man mit Freunden vergleichen kann, wer am meisten für seine Fitness tut. So soll die Motivation gestärkt und Unangenehmes, wie der Name schon sagt, spielerisch bewältigt werden.

Manche Angelegenheiten sind absolut unverspielt. Rechnungen zahlen und Kreditwürdigkeit zum Beispiel. Einige chinesische Firmen haben sich nun überlegt, dass es doch gut wäre, wenn man die Nutzer durch Spielelemente zu einer besseren Zahlungsmoral bringen könnte.

Anfang 2015 ging das so genannte „Sesame Credit“-System auf den Markt. Betrieben wird es von acht chinesischen Großunternehmen, unter anderem dem chinesischen Amazon-Pendant und Onlinehandelsgiganten Ali Baba, der für 80% des Onlinehandels in China verantwortlich ist sowie Ebay- und PayPal-ähnliche Dienste anbietet, und Tencent Holdings Limited, das verantwortlich für fast alle größeren Social Media-Plattformen in China und Teilhaber an einigen großen US-amerikanischen Computerspielunternehmen ist.

In erster Linie errechnet Sesame Credits einen persönlichen Bonitätsscore. Da der Bonitätsscore von einem Zusammenschluss privater Unternehmen errechnet wird, ist natürlich zum Beispiel Unternehmenstreue ein wesentlicher Faktor. Insgesamt gibt es fünf Teile, aus denen sich der Score zusammensetzt: Das Einkaufsvolumen bei den teilnehmenden Unternehmen, persönliche Informationen wie Arbeitsplatz oder Familienstatus, als jeweils eigene Kategorien die Zahlungsmoral bei Rechnungen und bei Kreditkartennutzung und als letzter Faktor die Zahl der Freunde, die „Sesame Credits“ nutzen.

Diese Faktoren zusammen ergeben einen persönlichen Punktestand von 350 bis 950 Punkten, der die eigene Kreditwürdigkeit widerspiegelt. Hinzu kommt, laut diversen Berichten, eine Analyse dessen, was eingekauft wird (Wer viele Computerspiele kauft ist faul, wer als Elternteil Windeln kauft verantwortungsvoll). Der ungefähre Punktestand und die Fortschritte in den einzelnen Kategorien werden dem Nutzer dann als Grafik mittels einer App angezeigt, ebenso der Punktestand der teilnehmenden Freunde.

Prestige und handfeste Vorteile

Der Einfluss von „Sesame Credits“ geht jedoch weit darüber hinaus, dass man nur für sich selber seine Bonität (bei den teilnehmenden Firmen) anzeigen lassen kann. Das liegt zum einen an den chinesischen Nutzern und zum andere an der Menge und Größe der teilnehmenden Unternehmen.

Nutzer veröffentlichen ihre Punkte in sozialen Netzwerken und vergleichen sie miteinander, wie die Highscores in einem Spiel. So will natürlich jeder der oder die Beste sein und dieses „Gamification“-Verfahren ist auch mit verantwortlich für den großen Erfolg von „Sesame Credits“, das, obwohl es noch in der Betaphase ist, schon viele begeisterte Anhänger hat.

Doch durch die vielfältigen Sparten der mitwirkenden Unternehmen kann man bei einem guten Punktestand auch in anderen Lebensbereichen Vorteile erwerben. Vor allem ist der Punktestand natürlich maßgeblich dafür, wie leicht man einen Kredit bei „Ant Financial Services Group“, dem für das Punktesystem verantwortlichen Finanzarm von Alibaba, bekommt. Bei guten Punkteständen erwarten den Nutzer jedoch auch für ein Kredit-System ungewöhnliche Vorteile wie etwa eine vereinfachte Hotelbuchung oder ein besseres Ranking auf einer von Chinas größten Dating-Seiten und im besten Fall, bei sehr hohen Highscore-Werten, ein vereinfachtes Visum nach Luxemburg.

„Sesame Credits“ scheint also vor allem ein von privaten Unternehmen entwickeltes System zu sein, das ihre Kunden durch Wettbewerb und Vorzüge dazu anhalten soll, bei ihnen zu kaufen, viel zu kaufen, Freunde zu werben und vor allem die Sachen, die sie kaufen, zu bezahlen.

Die Pläne der chinesischen Regierung

Die Unternehmen, von denen „Sesame Credits“ stammt, sind jedoch nicht die Einzigen, die den chinesischen Bürgern eine gute Zahlungsmoral beibringen wollen. Im Juni 2014 veröffentlichte die chinesische Regierung ein Dokument zur Aufstellung eines „Social Credit System“, also eines Systems, mit dem soziales Verhalten bewertet werden soll. Dieser Entwurf sieht Maßnahmen vor, mit denen das Verhalten chinesischer Bürger und Institutionen in Richtung eines „sozialen“ Verhaltens beeinflusst werden soll, das, je nach Lesart, als gesellschaftsverträglich oder als staatskonform gedeutet werden kann. Das erklärte Anliegen der Regierung ist es, die vor allem finanzielle Aufrichtigkeit in der Gesellschaft zu stärken. Das blumig formulierte Dokument sieht Anregungen zur Korruptionsbekämpfung und Möglichkeiten für kleine Unternehmen, Kredite aufnehmen zu können, vor.

Das hört sich erst einmal harmlos, sogar lobenswert an. Schaut man sich das Dokument jedoch genauer an, zeigt sich, dass die Vorstellung, wie dies erreicht werden soll, einige nicht so harmlose Ideen enthalten. Der tiefere Sinn darin, Aufrichtigkeit zu stärken ist es, eine „harmonische sozialistische Gesellschaft“ aufzubauen. Der Ausgangspunkt aller Bemühungen müssen daher die (von der Regierung vertretenen und vorgelebten) sozialistischen Grundwerte sein. Das heißt weiter gedacht, wer diese ablehnt oder nicht befolgt ist nicht vertrauenswürdig.

Vor diesem Hintergrund lesen sich viele Forderungen in einem anderen Licht: So sollen etwa Zuwiderhandlungen gegen den Vertrauensaufbau bestraft und das Befolgen der Regeln belohnt werden. Es soll, natürlich nur zum Vertrauensaufbau, eine Klarnamenpflicht im Internet eingeführt werden. Wer im Internet das Vertrauen bricht, soll etwa mit beschränktem Internetzugang bestraft werden. Es soll ein System zur Belohnung von Meldungen über Vertrauensbrüchen geben und wer etwas meldet soll belohnt werden.

Um eine möglichst umfangreiche Bewertung der Vertrauens- und Kreditwürdigkeit zu gewährleisten, müssen nun möglichst viele Daten über die einzelnen Bürger gesammelt werden. Bis zum Jahr 2020 soll jeder chinesische Bürger dann eine „Social Credit“-Einstufung haben. Und hier treffen sich das „Social Credit“-System der Regierung und das „Sesame Credit“-System der AliBaba Group.

Was haben „Sesame Credits“ und „Social Credits” mit einander zu tun?

Obwohl die Betreiber der „Sesame Credits“ private Unternehmen sind, sind sie nicht unabhängig von der chinesischen Regierung. „Sesame Credits“ ist es ein von der chinesischen Regierung unterstütztes Pilotprojekt. Damit soll die Möglichkeit getestet werden, Personen aufgrund von Informationen aus verschiedenen Quellen einen persönlichen Kredit-Punktestand zuzuordnen. Die chinesische Zentralbank, die auch die Erlaubnis für ein unabhängiges Kreditsystem gab, ließ verlauten, dass das „Sesame Credit“-System dann später auch eine Rolle in dem größer angelegten „Social Credit“-System spielen solle. Dies würde dann der Regierung ermöglichen, in den von ihr errechneten Aufrichtigkeitswert neben behördlich zugänglichen Daten, wie etwa Straftaten, Verkehrsverstöße oder Familienstand, auch das private Konsum- und Internetverhalten der Bürger einzubeziehen.

Also, macht China jetzt Überwachung zum Spiel?

Ich denke, die Antwort lautet: Noch nicht, aber die Entwicklung ist bedenklich genug. Schon das aktuell bestehende „Sesame Credit“-System ist als Kreditsystem wesentlich allumfassender als andere Kreditsysteme und regt durch seinen Spielaspekt dazu an, ein guter Konsument zu sein. Aber man kann das System, das ja ein Pilotprojekt ist, nicht unabhängig von den Plänen der chinesischen Regierung sehen und dann enfaltet dieses System ein dystopisches Potential.

Schon das „Sesame Credit“-System gewährt bei bestimmten Punktezahlen Vorteile, dies kann die chinesische Regierung übernehmen. Zugleich kann sie besser schlechte Werte sanktionieren.

Hinzu kommt das zum Beginn erwähnte Gamification-Prinzip. Wenn die chinesische Regierung auch den Spielaspekt des Systems wie etwa die Highscores und die Vergleichbarkeit des eigenen Standes mit Freunden übernimmt, hat das System viele der Pläne der Regierung automatisch eingebaut. Wenn ein Freund niedrige Punkte hat, und diese Punkte darauf beruhen, wie unzureichend er an das sozialistische System angepasst ist, dann wäre es vielleicht besser, nicht allzu eng mit ihm befreundet zu sein. Das könnte ja den eigenen Punkten schaden. Damit man wegen eines schlechten Rankings nicht von Freunden gemieden wird, sollte man also einen guten Punktestand haben und nicht zu sehr negativ auffallen… vor allem wenn ein niedriger Punktestand auch sonst Nachteile mit sich bringt, etwa erschwerte Bedingungen bei der Arbeitsplatzsuche und ein positiver Stand Vergünstigungen wie erleichterte Reisen ins Ausland.

In diesem Sinn ist die Gefahr, die durch dieses System besteht, wohl nicht so sehr staatliche Überwachung und damit verbundene Repression, sondern viel mehr eine umfassende Selbstüberwachung und sozialer Druck. Eine „nettere“ Art seine Bürger linientreu zu halten.

Der chinesische Journalist Zheping Huang sagt dazu: „Selbst wenn mein schlechter Punktewert [bei Sesame Credits] noch nicht viel bedeutet, nehme ich an, es ist das Beste, wenn er nicht zu niedrig wird. Also werde ich – warum auch nicht? – mehr bei Taobao [dem zu Alibaba gehörenden chinesischen Ebay-Äquivalent] kaufen. Hmm, vielleicht dieses Buch; Xi, Jinping: China regieren. Gesammelte Reden des Präsidenten? Damit kann ich nicht falsch liegen.”

Bild: Kurios, CCo Public Domain

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