Schweigespirale Bild 2 Format 1Letzte Woche veröffentlichte das einflussreiche PewResearch Institute aus den USA eine Studie mit dem Titel „Social Media and the Spiral of Silence“. Auch von deutschen Medien wurden die Ergebnisse aufgegriffen und diskutiert. Doch die Studie, wie auch die deutschen KommentatorInnen begehen einen Fehler: Nicht nur dass die Theorie der „Schweigespirale” wissenschaftlich tot ist. Vielmehr wird der Begriff hier auch falsch verwendet.
Die Verwendung von Schlagwörtern in der Wissenschaft ist eine zweischneidige Sache. Sie verhelfen komplexen Theorien schnell zu einiger Popularität und machen sie damit massentauglich. Das kann insbesondere in den Sozialwissenschaften wichtig sein, die an sich selbst immerhin den Anspruch hat, ihre Ergebnisse auch dem eigenem Forschungsobjekt – den „normalen“ Menschen – zu vermitteln.
Auf der anderen Seite können die Buzzwords Thesen am Leben erhalten, die in der eigentlichen Wissenschaft schon niemand mehr diskutiert. Ein gutes Beispiel dafür hat Julia Rieder kürzlich vorgestellt: Noch immer wird das Begriffspaar „Digital Natives“ bzw. „Digital Immigrants“ verwendet, auch wenn in der Wissenschaft mittlerweile Konsens darüber herrscht, dass vieles beim Thema Mediennutzung eine Rolle spielt, das Alter aber nicht. Eines der beharrlichsten Beispiele – und leider auch der ärgerlichsten – ist allerdings die Idee der „Schweigespirale“.

Eine angegraute Theorie…,

Die wurde just mal wieder ausgebuddelt, um einer Studie des Pew Research Center (USA) Aufmerksamkeit zu verschaffen. Das Institut untersuchte die Bereitschaft der AmerikanerInnen, sich online über die NSA-Affäre auszutauschen. Das Ergebnis kurz zusammengefasst: Menschen sagen vor allem dann ihre Meinung, wenn sie glauben, dass ihre Follower und Friends (bzw. Freunde, Familie und Kollegen) dasselbe denken. Die FAZ fühlte sich ob dieser spektakulären Neuigkeit gleich veranlasst, einen Artikel ihrer Online-Ausgabe mit „Auch im Netz regiert die Schweigespirale“ zu betiteln. Das Computermagazin „Chip“ gab diesen fast wortgleich wieder, im „neues deutschland“ findet sich nur sanfte Kritik, einzig Niklas Hofmann berichtet in der Süddeutschen Zeitung etwas zurückhaltender (aber unter ähnlicher Überschrift). Dabei ist die Aussage einfach falsch.
Der Begriff ist in den 1970er Jahren sozialwissenschaftlich eingeführt worden von Elisabeth Nölle-Neumann, der Gründerin des demoskopischen Instituts Allensbach. Obwohl Meinungsumfragen prinzipiell wertneutral sind, stand Nölle-Neumann nie in dem Verdacht, parteipolitisch neutral zu agieren. Nach einem eher zweifelhaften Verhältnis zum Nationalsozialismus während ihrer Jugend- und Studienzeit war Nölle-Neumann nicht nur mit dem CDU-Politiker Erich Peter Neumann verheiratet, sondern ließ sich später auch von Helmut Kohl zu einem Lehrstuhl an der Universität Mainz verhelfen. Das von ihr gegründete Allensbach-Institut gilt bis heute als konservativ.
KritikerInnen halten die „Schweigespirale“ für ihren Versuch, der CDU zu erklären, warum ihr nach 1965 auf einmal die Bundesrepublik nicht mehr (allein) gehörte. Dummerweise ist die These auch eine der wenigen deutschen Theorien seit Adorno, die es bis in die amerikanische Sozialwissenschaft geschafft hat. Ihr Inhalt ist relativ simpel: Wer sich mit seiner Meinung gesamtgesellschaftlich in der Minderheit fühlt, neigt dazu, seine Meinung nicht mehr laut zu sagen. Dadurch, dass die Meinung nicht mehr gesagt wird, verstärkt sich für alle „anderen“ der Eindruck, diese spezielle Meinung sei eine Minderheit. Und auf einmal denkt eine ganze Gesellschaft ganz anders. Die These argumentiert im Kreis, wie schon der Name sagt.

…die schon damals niemand verwendete

Und sie hat gleich mehrere Probleme. Sie bewegt sich argumentativ nicht nur in der Nähe des „die schweigende Mehrheit, die Stimme des Volkes“-Schwadronierens einiger extremistischer Parteien, sondern ist prinzipiell auch nicht zu überprüfen. Denn wer sich in der Minderheit fühlt, verrät laut der These schließlich nicht seine wahre Meinung – oder äußert öffentlich sogar eine andere. Wessen Meinung von der Schweigespirale verschluckt wird, ist also Interpretation.
Gegen den Vorwurf der Vereinfachung hat Nölle-Neumann sich gewehrt, indem sie ihre Theorie über die Jahre mit immer neuen Ergänzungen versah – was sie aber letztlich nur noch unüberprüfbarer machte. Zudem konnte sich die These von ihrer größten Schwäche nie befreien: Wenn es darum geht, dass Minderheitenmeinungen verstummen, muss es zunächst einmal eine Mehrheitsmeinung geben. Doch wie will man die eindeutig ermitteln? Zumindest in Deutschland gibt es eine diversifizierte Medienlandschaft, eine ausgeprägte politische Streitkultur, viele soziale Milieus mit unterschiedlichen Ansichten und Artikulationsformen – wer sollte sich schon anmaßen, bei jedem Thema die Mehrheitsmeinung zu erkennen? Es ist durchaus plausibel, dass ein CSU-Anhänger aus Bayreuth seine Meinung genauso für die allgemeine Mehrheitsmeinung hält wie die grüne Grundschullehrerin aus Kreuzberg.

Das Internet hat den Troll erfunden, nicht geknebelt

Doch selbst wenn klare Mehrheitsmeinungen bei einem Thema mal zu erkennen sind, bringen Sie die Minderheiten nicht zum Schweigen. Mit Verweis auf unsere Presseschau von letzter Woche gilt das umso mehr: Die rechtsextreme NPD vertritt Positionen, die von der Mehrheit der Bevölkerung – glücklicherweise – nicht geteilt werden. Im Internet betreibt sie trotzdem hemmungslos Propaganda, und wird von ihren AnhängerInnen offen unterstützt. Die Minderheit schweigt auch im Internet nicht. Unabhängig davon, ob das Internet den Troll erfunden hat oder andersrum: Er überlebt als Gattung alle Genenationen des Internets.
Nölle-Neumanns These basierte auf der Annahme, dass Menschen Angst vor Ausgrenzung und Isolation haben, wenn sie abweichende bzw. „unpopuläre“ Meinungen vertreten. Das ist vollkommen richtig. Wirkung hat das aber nur im engeren sozialen Umfeld einer Person, nicht in einer ganzen Gesellschaft. Hier reden wir von Anpassungsdruck. Soziale Kreise, Schichten, Milieus und Gruppen existieren unendlich viele. Und diese können ungeachtet ihrer gesamtgesellschaftlichen Position problemlos nebeneinander existieren. So entsteht Meinungsvielfalt. So entstehen aber zum Beispiel auch Subkulturen.

Wer will schon online über die NSA diskutieren?

Das Phänomen, das die amerikanische Studie bespricht, lässt sich auch viel besser mit sozialem Anpassungsdruck als mit einer „Schweigespirale“ erklären: Menschen wollen nicht merklich von der Position ihrer sozialen Umgebung abweichen. Facebook versucht mathematisch genau, diese soziale Umgebung abzubilden, es ist die sprichwörtliche Manifestation der Filter Bubble. Hier schreibe ich nichts, von dem ich weiß, dass meine gesamte Followerschaft daraufhin laut aufschreit. Das gilt allerdings für die linke Bloggerin wie auch den strammrechten Burschenschaftler und verändert nicht die Stimmung in der Gesamtgesellschaft. Denn unsere sozialen Umfelder, unsere Filterblasen sind ja selbst gewählt und können, wenn jemand eine starke Diskrepanz zwischen sich und seinem sozialen Umfeld feststellt, auch gewechselt werden.
Als Randnotiz sei noch bemerkt: Überrascht es ernsthaft jemanden, dass sich niemand kurz nach den Snowden-Enthüllungen online über die NSA aufregen möchte? Vor allem, wenn die Befragten US-AmerikanerInnen sind, also die von der NSA immer noch am stärksten überwachte Gruppe?

Interessante Fragen,…

Auch wenn die Studie mit falschen Begrifflichkeiten arbeitet, hat sie interessante Details zu bieten. Diese verstecken sich nur hinter der boulevardesken Aufmachung „Im Internet gilt die Schweigespirale!“ Die AutorInnen bemerken nämlich, dass Facebook- und Twitter-UserInnen – unabhängig von ihrer Meinung zum Thema NSA und davon, ob sie online darüber sprechen – weniger häufig in der Realität darüber sprechen wollen.
Für die Feststellung, dass online-affine Menschen seltener im echten Leben über die NSA sprechen wollen, könnte eine Reihe von Erklärungen herhalten. Möglich ist, dass Menschen, die mit der Dynamik von Shitstorms und Trollkommentaren vertraut sind, auch im privaten Leben vorsichtiger werden. Wohlgemerkt: Vorsichtiger mit jeder Äußerung, es handelt sich also nicht um eine „Schweigespirale“. Möglich ist auch, dass die Online-Kommunikation das Bedürfnis ersetzt, offline über ein Thema zu sprechen. Es ist auch möglich, dass Facebook- und Twitter-UserInnen generell eine größere Ablehnung gegenüber politischen Diskussionen an den Tag legen als die Gesamtgruppe. Vielleicht aber hat es auch nur mit dem Thema „NSA/Edward Snowden“ zu tun und ist nicht generell auf politische Themen zu übertragen.

… aber die „Schweigespirale“ ist nicht die Antwort

Sie merken, man kann hier leicht ins Spekulieren geraten. Die Studie liefert nämlich eher wichtige Fragen als dass sie neue Ergebnisse zutage fördert. Den Begriff der Schweigespirale benutzt sie missbräuchlich, denn Nölle-Neumann erfand diese, um  einen Prozess zu beschreiben, an dessen Ende in einer Gesellschaft nur noch eine Meinung vertreten wird. Erstens ist das beim Thema NSA in den USA nicht der Fall. Und zweitens beschreiben die AutorInnen der Studie auch etwas ganz anderes. Nämlich Anpassungsverhalten in verschiedenen sozialen Kontexten.
Die Frage des Zusammenhangs von Online- und Offlinekommunikation genauer zu beleuchten, ist sicher interessant. Aber deswegen die Schweigespirale wiederbeleben zu wollen, wäre schlichtweg falsch.

 tl;dr

  1. Die Behauptung, im Internet regiere eine „Schweigespirale“, ist falsch. Die AutorInnen der amerikanischen Studie meinen eigentlich Anpassungsdruck an das eigene soziale Umfeld.
  2. Die „Schweigespirale“ war als Theorie nie zu überprüfen und wird in den Sozialwissenschaften kaum noch verwendet.
  3. Die Studie wirft eine interessantere Frage auf: Warum sprechen Menschen, die Social Media nutzen, seltener über die NSA?

Foto: Dimitry B.
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