Auf dem Weg zum Zeitwohlstand

In der postindustriellen Gesellschaft ändert sich das Wesen der Arbeit und damit auch der Charakter der
Volkswirtschaft. Die neuen ökonomischen Faktoren der IT-Gesellschaft heißen "Zeit" und "Wissen". Das
Bruttosozialprodukt jedoch ignoriert diese neuen Wirtschaftsfaktoren bislang.

Lange bevor die Deutschen vom Börsenrausch der 90er Jahre erfaßt wurden und Begriffe wie Nikkei und Nasdaq
zum festen Bestandteil des Allerwelts-Deutsch avancierten, waren für die breite Öffentlichkeit zwei Meßzahlen
Eckpfeiler des wirtschaftlichen Geschehens: zum einen die Zahl der Arbeitslosen, zum anderen die Entwicklung
des Bruttosozialprodukts. In Zeiten der postindustriellen Gesellschaft, deren Profil sich durch die neuen Medien,
vor allem durch die Verbreitung des Internets, grundlegend gewandelt hat, müssen nun auch diese angestammten
Wohlstandsindikatoren inhaltlich den neuen Verhältnissen angepasst werden. Die beiden Schlüsselbegriffe, die
den neuen volkswirtschaftlichen Nerv treffen heißen "Zeit" und "Wissen".

Die Entstehung der postindustriellen Gesellschaft führt zunächst zu einem Überschuss an Zeit.. Für die Produktion
der klassischen Güter wird immer weniger menschliche Arbeitskraft, also menschliche Lebenszeit, aufgewendet
werden. Des Überschußes entledigt man sich in Form der Arbeitslosigkeit. Diese "Verwendung" ist – wie alle
wissen – überaus nachteilig.

Für viele andere hingegen ist Zeit Mangelware: Marketing-Strategen machen sich bereits Gedanken über eine
kommende "Aufmerksamkeitsökonomie". Der knappe Faktor in dieser volkswirtschaftlichen Variante wäre nicht
mehr das Geld des Konsumenten, sondern vielmehr seine Aufmerksamkeit, also eigentlich seine Zeit. Diese allein
wird man in Zukunft bezahlen: es wird heute überlegt, ob man Kunden nicht für das Lesen von Werbung bezahlen
soll – ein neues Betätigungsfeld für Arbeitslose.

Der zweite bestimmende Faktor der
postindustrielle Gesellschaft ist das Wissen. In der
"Wissensgesellschaft" sind die Informationen dank des Internets und
anderer Technologien überall schnell verfügbar. Allerdings braucht es
wiederum Zeit, um dieses Wissen zu bewerten, in Zusammenhang zu setzen
und schließlich verwertbar zu machen. Diejenigen, die Zeit haben, also
die Verlierer der schönen neuen postindustriellen Welt, verfügen meist
nicht über das know-how, um in der Wissens-Wirtschaft erfolgreich
mitzumischen.
So erklärt sich der gegenwärtige Zustand, das auf der einen Seite gut 4
Millionen Arbeitslose mit vergleichsweise viel verfügbarer Zeit stehen
und auf der anderen Seite die Gewinner der nachindustriellen
Gesellschaft immer mehr arbeiten.

Wie auch zuvor in der industriellen Gesellschaft bleibt das System letztlich ungerecht. Nur die Faktoren der
Wohlstandsverteilung tragen andere Namen: Wer den Rohstoff Wissen hat, braucht die Produktionsstätte
Computer und die Zeit seiner Angestellten, um in kürzester Zeit ein weltweit verfügbares Produkt zu Geld zu
machen.

Vor dem geschilderten Hintergrund wird deutlich, das eine neue inhaltliche Bestimmung der Meßlatte für
gesellschaftlichen Wohlstand akzeptiert werden muss. Das Bruttosozialprodukt wie wir es kennen ist veraltet.
Genau genommen gibt es seit mindestens 30 Jahren gut begründete, weithin akzeptierte Kritik an diesem
Meßwert: das BSP ignoriert nicht am Markt gehandelte Produkte und Leistungen (Eigenarbeit, Ehrenamt usw.).
Es ist blind gegen Umweltschäden. Mehr noch: die kostenträchtige Beseitigung von Umweltschäden geht
"wohlstandssteigernd" in das BSP ein, während eine unangetastete Umwelt keinen volkswirtschaftlichen
Bilanzwert hat. Die Gleichheit oder Ungleichheit der Verteilung der Güter spielt bei der Ermittlung des BSP keine
Rolle.

Die veränderte Gesellschaft braucht also eine Ergänzung der Meßgrößen für Wohlstand, um sich selbst zu
beschreiben. Aber nicht nur das Bruttosozialprodukt muss neue Perspektiven verfolgen, um einen gültigen
gesellschaftlichen Wohlstandswert ausdrücken zu können, die Gliederung der Gesellschaft insgesamt muss
anders aufgefasst und formuliert werden. Wenn die beschriebene Schere zwischen Arbeitenden ohne Zeit und
Arbeitslosen mit Zeit nicht noch weiter auseinander brechen soll, brauchen wir eine Diskussion über die
Gesellschaft, die auf die Arbeitsgesellschaft folgt. Der Begriff der Tätigkeitsgesellschaft beispielsweise
berücksichtigt neben der klassischen Erwerbsarbeit noch andere Formen der Arbeit in einer Gesellschaft: die
Felder Bildung, gesellschaftliches Engagement und Familie müssten in das Bruttosozialprodukt einfließen. Eine
solche Größe, die die neuen gesellschaftlichen Zustände auch volkswirtschaftlich erfasst, kann unseren
tatsächlichen Wohlstand reflektieren. Zeit, Bildung und Engagement würden uns dann auch faktisch reicher
machen.