Der Countdown im US-Wahlkampf ist in vollem Gange

November. Halloween ist gerade erst vorbei,
und schon wieder gehen in den USA die Menschen von Haus zu Haus. Diesmal sind es jedoch
nicht kleine, verkleidete Gestalten, die mit dem Spruch "trick or treat" ihren
kalorienreichen Wegezoll einfordern, sondern jetzt fordern die unermüdlichen
Wahlhelferinnen und -helfer ihre wahlmüden Mitbürger zur Stimmabgabe auf. Traditionell
am zweiten Dienstag des tristen Monats werden die insgesamt 538 Mitglieder des
"electoral college" verteilt, die dann im Januar den Präsidenten der
Vereinigten Staaten ermitteln.

Rückblende. Der Oktober war von den drei großen Fernsehdebatten
zwischen George W. Bush und Al Gore dominiert, nur gelegentlich mischten sich die
Zwischentöne von den wenig aussichtsreichen Rändern um Ralph Nader oder Patrick J.
Buchanan in das Duett der Durchschnittskandidaten. Auch im Netz wird in diesen Tagen der
digitale Soundtrack wieder etwas lauter. Ein letztes Mal werfen die zahlreichen
Online-Kandidaten ihre Avatar-Körper in die Waagschale, neben Jackie Strike, Barbie und
… hatte sich auch der beliebte Bürgermeister Joe
"Diamond" Quimby
in das Rennen um das Weiße Haus eingemischt. Mit markigen
Sprüchen und harten Bandagen (dem Vernehmen nach wurde ein Kontrahent tot auf einer
Müllkippe gefunden) führt Quimby seine Online-Kampagne. Auch in Deutschland ist der
wendige und korrupte Scheitelträger kein Unbekannter, führt er doch die Amtsgeschäfte
in Springfield, der Heimatstadt der Simpsons.

Waren die Avancen der Avatare und "Fake Candidates" über
weite Strecken belebende Elemente in einer wenig prickelnden Auseinandersetzung der
"presidential twins" Bush und Gore, so findet der letzte Abschnitt des
"Horse Race" um den prestigeträchtigen Büroraum in Washington, D.C. quasi ohne
virtuelle Beteiligung statt. Während sich in den alten Medien die Journalisten an mehr
oder minder versteckten Wahlempfehlungen die Zähne ausbeißen, werden im Netz die Surfer
an die Zählautomaten gebeten. Mehr denn je haben nun die unterschiedlichen Methoden der
Online-Auguren Hochkonjunktur – und buhlen mit aufwändigem „Edutainment“ um die
Gunst der Spätentscheider.

Ein Musterbeispiel für den Trend zum Spiel mit den zögerlichen
Wählerinnen und Wählern ist der „Candidator“,
ein Online-Spiel, das von der österreichischen Firma sysis
entwickelt wurde und vor kurzem auf der Website des Time
Magazine
platziert wurde. Dieses interaktive Empfehlungstool besteht im Kern aus einem
Fragebogen, der aus den Wahlprogrammen und Aussagen der Kontrahenten Bush und Gore
entwickelt wurde. In knappe Aussagen gepackt, wird den Online-Nutzern ein Panorama der
wichtigsten Wahlkampfthemen (natürlich: Waffengebrauch, Abtreibung, Gesundheitswesen…)
ausgebreitet. Jeweils zwei Statements stehen zur Auswahl, sie enthalten stets eine
grundsätzliche Präferenz für einen der beiden Anwärter. In insgesamt zwölf
Frage-Antwort-Runden können die „undecided voters“ Übereinstimmungen mit den
Aussagen der Kandidaten herausfinden. Unter die Sachfragen hat das
„interdisziplinäre Team von österreichischen und amerikanischen
Wissenschaftlern“ (sysis-Eigenwerbung) auch drei Vertrauensfragen gemischt – so
müssen sich die Surfer auch entscheiden, wessen schmutzige Wäsche sie waschen wollen
oder wem sie einen gewissen Geldbetrag anvertrauen würden. Auf diese Weise soll der
„Vertrauensfaktor“ der Kandidaten ermittelt werden. Nun ja. Scheinbar ist der
Candidator ein großer Erfolg, denn in den ersten Wochen erfreute sich das Online-Spiel
recht großer Beliebtheit. Das könnte allerdings auch an der gelungenen grafischen
Umsetzung liegen: Bush und Gore werden nämlich von farbenfrohen Comicfiguren
repräsentiert, die je nach Abstimmungs-Entscheid albern-unterhaltsam animiert werden.

Doch es gibt auch Orte im Online-Wahlkampf, in denen bis zuletzt der
sachorientierte Austausch zwischen den Aspiranten auf den Amtssitz an der Pennsylvania
Avenue gefördert wird. Die unabhängige Site Webwhiteblue
organisiert seit Anfang Oktober die erste "Rolling Cyber Debate" – und
unternimmt damit einen Versuch, den Show-Veranstaltungen aus dem Fernsehen ein digitales
Gegengewicht zu bieten. Hier haben alle Kandidaten die Gelegenheit, sich in einer
„Nachricht des Tages“ zu den wesentlichen Wahlkampfthemen zu äußern –
demgegenüber gibt die von den Online-Nutzern gestellte "Frage des Tages" der
Diskussion einen partizipativen Spin.

Unter Federführung der Markle
Foundation
ist hier ein ambitioniertes Online-Projekt entstanden, das dem
lustig-lauten Wahlkampf-„Edutainment“ diametral gegenübersteht. Auf 17 großen
US-Websites (darunter yahoo!, AOL oder die New York Times)
werden täglich neue Fragen gestellt, die persönlich oder über Stellvertreter
beantwortet werden können. Erlaubt ist zur Beantwortung nicht nur die Einsendung von
Texten, auch Audio- und Video-Beiträge sind erlaubt. Auf diese Weise entsteht ein
täglich wachsendes Debatten-Archiv, das
sich grundsätzlich von den zunehmend künstlichen und schnelllebigen TV-Debatten absetzt.
Allerdings: durch die Fülle der Frage- und Antwortmöglichkeiten ist die „Cyber
Debate“ ein beinahe schon zu anspruchsvolles Angebot geworden. Denn die Kandidaten
können nicht nur auf die Tagesfrage antworten, sondern jeweils auch direkte Antworten auf
die Statements ihrer Konkurrenten geben.

Der komplizierten Handhabung zum Trotz: an solchen Initiativen
mangelt es in diesem Online-Wahlkampf. Hatten in der Frühphase und während der Vorwahlen
noch die massiven Erfolge der digitalen Spendenerhebung für Furore gesorgt, so fehlen auf
den letzten Metern ähnlich erfolgreiche Gegenstücke zum "Online-Fundraising".
Spannende Episoden lieferten allerdings unterschiedliche Plattformen zum Handel mit
Wählerstimmen. Neben der vergleichsweise plumpen Version von voteauction.com, einer
inzwischen geschlossenen Website zum Stimmenverkauf, unterbreitete voteswap2000.com ein subtileres Angebot. Dieser
digitale Stimmenumschlagplatz richtete sich vornehmlich an potenzielle Wähler des
Drittkandidaten Nader und Gore-Unterstützer: im Gegenzug für Gore-Unterstützung in hart
umkämpften Bundesstaaten sollten die Anhänger des demokratischen Kandidaten in
"sicheren Gore-Staaten" Naders Grünen zum Sprung über die für die
Wahlkampffinanzierung so wichtige 5%-Hürde helfen.

Letztlich zeigen aber auch solche Projekte, unter welchem Stern die
2000er Kampagne im Internet stattfand. Vornehmlich ging es darum, neue Mittel und Methoden
des e-Commerce auf die politische Arena zu übertragen. Kurzfristig konnten dabei vor
allem von der Anbieterseite Erfolge verbucht werden, doch für den langersehnten Anstieg
der Wahlbeteiligung dürfte dieser marketinglastige und diskursarme Online-Wahlkampf nicht
gesorgt haben. Die Stimmenbörsen wie voteswap2000.com zeigen jedoch möglicherweise eine
neue Richtung auf – selbst wenn dieses "verteilte Wählen"
(Florian Rötzer) letztlich keine allzu großen Auswirkungen auf den Wahlausgang haben
dürfte. Das Netz bietet offenbar immer wieder die Chance zur Entstehung
polit-ökologischer Nischen, die langfristig durchaus neue Beteiligungsformen
hervorbringen könnten. Michael Cornfield, Leiter des Democracy Online Project, formuliert es so:
"Dies ist das erste Mal, dass ich die Wähler in einer anspruchsvollen Art und Weise
miteinander reden sehe, ohne dass sie dazu die Medien oder die Parteien benötigen."

So bleibt abschließend nach einiger Ernüchterung und manchen Hoffnungen noch der
Verweis auf die Wahlnacht – immerhin dürfte es hier wieder einige Premieren bei der
digitalen Berichterstattung geben. Die üblichen Verdächtigen haben seit dem letzten
"election day" ihren Maschinenpark erheblich aufgefrischt, so dass in der Nacht
vom 7. zum 8. November wieder das "Wahlstudio im Wohnzimmer" eingerichtet werden
kann. Die "Dossierisierung" reicht dabei bis auf die andere Seite des Atlantik:
so hat auch der Spiegel
ein reichhaltiges Datenpaket geschnürt, um digital gerüstet in die Wahlnacht zu gehen.
Neben statistischem Material bis zum Plattencrash werden die Live-Reaktionen im Gegensatz
zu 1996 diesmal auch in Bild und Ton den Weg ins Netz finden. So verliert der Cyberspace
ein weiteres Stückchen vom Mythos des Abenteuerspielplatzes für Unentwegte –
Datenfernsehen wir kommen.

PS: Ein Hinweis für Liebhaber – zur
ordentlichen Vorbereitung auf die Millenniums-Wahlnacht gehört auch ein Rückblick in die
digitale Vergangenheit des E-Campaigning. Das Internet
Archive
bietet passend zur Entscheidung zwischen Gore und Bush eine Kollektion alter Wahlkampfseiten aus dem
Jahr 1996.