Die Digitalisierung, die inzwischen in nahezu allen Bereichen unserer heutigen Gesellschaft einen Wandel ausgelöst hat, macht auch vor der Kunst und Wissenschaft der Überzeugung nicht halt. Sprache und die Art und Weise, wie wir miteinander kommunizieren, haben sich in den letzten Jahren spürbar verändert. Kommunikation ist schneller, unmittelbarer und so vielleicht auch manipulativer geworden. Softwareentwickler arbeiten inzwischen schon an eigenen Argumentationssystemen, die sich mit dem Menschen messen können. Im Interview mit politik-digital.de spricht Prof. Dr. Till über die Rolle der Rhetorik in der digitalen Gesellschaft, die Gefahren von Manipulation im Netz und welche Bedeutung die Glaubwürdigkeit des Redners dabei hat.
Prof. Dr. Dietmar Till studierte und promovierte an der Eberhard Karls Universität in Tübingen und ist dort seit dem Wintersemester 2011/12 Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Rhetorik. Neben seinen Hauptarbeitsgebieten der Geschichte und Theorie der Rhetorik ist er Experte für Propagandaforschung und politische Rhetorik. Als Gastwissenschaftler lehrte er auch in den USA, zuletzt 2016 an der University of Washington in Seattle. Er arbeitet am Tübinger Seminar für Allgemeine Rhetorik, dem europaweit einzigen Universitätsinstitut für Rhetorikforschung. Als Autor hat er ebenfalls zahlreiche Bücher, Aufsätze, Rezensionen und Artikel publiziert, in denen er sich u.a. mit den Transformationen der Rhetorik auseinandersetzte.
politik-digital.de: In den letzten Jahren hat die Digitalisierung in verschiedensten Bereichen der Gesellschaft erheblich an Bedeutung gewonnen. Inwiefern lässt sich solch eine digitale Transformation auch im Bereich der Rhetorik beobachten? Und welche Elemente der antiken Rhetoriklehre sind auch heute noch zeitgemäß?
Die antike Rhetorik geht von ganz einfachen Gegebenheiten aus: Es wird mündlich kommuniziert und face-to-face, d.h. Redner und Publikum sind gleichzeitig präsent. Gesprochen wird frei, also ohne Manuskript und andere Hilfsmittel, und ohne technische Verstärkeranlagen wie Mikrofone und Lautsprecher. Heute geschieht Kommunikation vor allem mediengestützt. Das ist keine neue Entwicklung, wenn man überhaupt an die Entwicklung der Schrift denkt und dann natürlich an den Buchdruck und Gutenberg im 15. Jahrhundert. Man sagt ja manchmal, dass die von Luther angestoßene Reformation ohne die Entwicklung des Buchdrucks nicht möglich gewesen wäre.
Die Frage der Medienrhetorik hat also eine historische Tiefendimension, das sollte man nicht vergessen, wenn man von der Medienrevolution unserer Tage spricht. Natürlich gibt es eine digitale Transformation auch im Bereich der Rhetorik, die neue Bedingungen schafft. Man muss nur etwa an Wahlkämpfe denken, in denen etwa soziale Medien heute eine ganz zentrale Rolle spielen. Politikerinnen und Politiker können damit Wählerinnen und Wähler gezielt ansprechen – und durch die Daten unserer Facebook-Konten wissen sie auch, bei wem es sich überhaupt lohnt. Das wird mittlerweile nicht nur in den USA, sondern auch in deutschen Wahlkämpfen gemacht. Digitale Medien sind also ein mächtiges und zugleich kostengünstiges Mittel der Wählerbeeinflussung. Andererseits haben die vielen Videos auf Plattformen wie Youtube auch zu so etwas wie einem Revival der klassischen Rede geführt. Man konnte das schon bei Obama sehen. Seine Reden wurden teilweise regelrechte Youtube-Hits. Und die Digitalität ermöglicht auch interessante Medienmixe, wie man wiederum beim späten Obama studieren konnte: Die Internet-Fassung seiner letzten „State of the Union“-Rede wurde von zahlreichen Statistiken, Bildern und Zitaten begleitet, gestaltet in einer Art Split-Screen-Technik: links Obama, rechts die Selbst-Kommentare zu der eigenen Rede. Wir werden in den kommenden Jahren viele weitere solcher Medienhybride sehen.
Welcher Begriff der wichtigste aus der antiken Rhetorik für heute ist? Ich denke, das Ethos. Die klassischen Autoren verstanden darunter die Glaubwürdigkeit und das Image eines Redners. In einer immer komplexeren Welt, die wir alle nur noch bruchstückhaft verstehen können, wird Glaubwürdigkeit zur entscheidenden Währung. Die zentrale Frage unserer Zeit ist ja: Wem können wir trauen, was stimmt, was nicht, was ist erfunden und was gefälscht?
politik-digital.de: Glauben Sie, dass die Vielzahl an ungefilterten Beiträgen, denen wir heutzutage in sozialen Netzwerken begegnen und die dabei teilweise bewusst Stimmungsmache betreiben, dazu beitragen, dass die Grenze zwischen Manipulation und Rhetorik, also dem Versuch der argumentativen Überzeugung, immer mehr verschwimmt?
Diese Grenze war tatsächlich nie so ganz trennscharf, vor allem dann, wenn man in die Praxis blickt. Aber: Die Rhetorik geht von zwei Grundannahmen aus: Erstens, dass es beim Überzeugen primär um die auf ein bestimmtes Publikum passenden Argumente geht; zweitens, dass es immer ein Freiheitsmoment gibt, ich also als Zuhörer einer Rede immer die Möglichkeit habe, für mich zu entscheiden, dass mich ein Argument eben nicht überzeugt – und ich etwa Rückfragen habe etc. Letzteres grenzt Rhetorik von der Propaganda ab. Ein entscheidender Vorteil rhetorischer Überzeugungsverfahren besteht also darin, dass sie einen rationalen Kern haben. Begründetheit garantiert nicht zuletzt die relative Langfristigkeit und Stabilität von Überzeugungen. Nur so ist politisches Handeln ja überhaupt möglich. Und nur ein solches primär argumentatives Verfahren ermöglicht es Gesellschaften und Gruppen, wichtige Themen so zu erörtern, dass dabei nachhaltige und belastbare Lösungen herauskommen. Insofern könnte man auch sagen, dass eine der Stärken der Rhetorik darin liegt, dass sie Konfliktlagen kommunikativ befrieden kann.
politik-digital.de: Es wird zwischen „weißer“, also offener Propaganda, die sich auf eine bestimmte Quelle zurückführen lässt, und „schwarzer Propaganda“ unterschieden, die versteckter und manipulativer agiert und dessen Zielgruppe sich der Beeinflussung nicht bewusst ist. Sind Sie der Ansicht, besonders diese manipulative Form stellt heutzutage, vielleicht sogar noch stärker als früher, eine Bedrohung dar? Inwiefern lassen sich die Ursachen dafür in der Digitalisierung und der Art der Kommunikation im World Wide Web finden?
Das würde ich ganz klar bejahen. Wir alle kennen Fotografien aus der Stalin-Ära, in der, mal der eine, mal der andere Parteigenosse, der eben gerade in Ungnade gefallen war, aus dem Foto rausretuschiert wurde. Meistens sieht man noch die Kanten, wo mit Schere oder Messer geschnitten wurde. Heute sind diese Techniken der Bildmanipulation äußerst raffiniert geworden – neuerdings gibt es ja nicht nur eine Manipulation von Einzelbildern, sondern auch ganzen Filmen, in denen dann z.B. Köpfe und Körper von Personen reinkopiert werden können. Hier wird bewusst mit der Annahme operiert, dass Bilder Evidenzeffekte generieren, also hohe Glaubwürdigkeit haben. Hinzu kommt in den sozialen Medien der ganze Komplex der social bots, der Trolle und der gefälschten Identitäten, siehe den Skandal um Facebook und Cambridge Analytica im letzten US-Präsidentschaftswahlkampf.
Das Publikum der antiken Reden hatte es unendlich einfacher: Man konnte die Person, die sprach, sehen und sich einen eigenen Eindruck aus erster Hand verschaffen. Das ist in unserer Medienrealität nicht mehr möglich. Und hier schließt sich natürlich der ganze Komplex von Ethos und Glaubwürdigkeit an. Wenn die Gesellschaften unserer Welt es nicht schaffen, Mittel zu entwickeln, mit denen die einzelnen Kommunikatoren im Netz identifiziert und authentifiziert werden können, werden wir womöglich dunkle Zeiten erleben.
politik-digital.de: Die Justizministerin Barley warnt aktuell vor einer zunehmenden sprachlichen Verrohung und einer Veränderung der Debattenkultur, bei der immer wieder aufs Neue Grenzen überschritten werden und bewusst Angst geschürt werden soll. Wie wirkt sich das Ihrer Ansicht nach auf die Qualität (politischer) Debatten aus? Und wie weit kann ein rhetorisch geschulter Blick dabei helfen, sich im Wirrwarr an Informationen und Meinungen zurechtzufinden?
Das Internet wurde ja einmal zum Heilsbringer stilisiert, und noch vor wenigen Jahren hat man auch die damals aufkommenden sozialen Medien als Medien der Diskussion gefeiert. Das hat sich nun ins vollkommene Gegenteil verkehrt, und das stimmt so natürlich auch nicht ganz. Ich erlebe auf Twitter beides: Diskussionen (im Rahmen dessen, was in den 240 Zeichen möglich ist), aber auch viel Destruktives. Insofern würde ich mir hier mehr Differenzierung wünschen.
Aber Ministerin Barley thematisiert natürlich einen wichtigen Punkt. Populisten etwa nutzen soziale Medien wie Facebook und Twitter dazu, den gesellschaftlichen Konsens in vielen Punkten in Frage zu stellen, etwa im Bereich der Erinnerungspolitik. Sie testen ganz bewusst die Grenzen des Sagbaren aus und versuchen auf diese Weise am gesellschaftlichen Konsens zu rütteln. Aber man muss auch sagen: Sie treffen auf eine wehrhafte Bürgergesellschaft, die sich das nicht gefallen lässt. Insofern würde ich sagen, dass hier nicht alles verloren ist. Tatsächlich halte ich social bots für eine viel größere Gefahr als die Internet-Tweets einer Beatrix von Storch.
Das Problem sozialer Medien ist nicht zuletzt, dass es Echtzeitmedien sind. Das ist einerseits schön, denn es bringt Menschen ja tatsächlich zusammen und erzeugt wenigstens ein Gefühl von Nähe, andererseits profitiert eine Sachdiskussion immer von Entschleunigung, Ruhe und nachdenklichem Abwägen der Argumente. Die Medienlogik von Twitter und Facebook widerspricht dem und begünstigt die schnellen Aufreger, Provokationen und Tabubrüche. Es geht dabei natürlich auch um Aufmerksamkeit, die sich leicht erzielen lässt, wenn sich Populisten dieser Medienlogik bedienen. Ich glaube, dass wir als Gesellschaft lernen müssen, die Vor- und Nachteile bestimmter Kommunikationsformen für bestimmte Themen zu erkennen. Und wir brauchen eine Diskussion über so etwas wie „kommunikativen Anstand“ – wie wir mit Menschen diskutieren, die wir nicht als Person leibhaftig vor uns haben. Das geht dann in den Bereich der Ethik hinein und ist auch eine Bildungsaufgabe.
politik-digital.de: Im Juni hat IBM eines seiner neuesten Projekte vorgestellt: eine Argumentationssoftware, die den Namen „Project Debater“ trägt. Im ersten direkten Vergleich mit dem Menschen, bei der zwei erfahrene Redner in einer freien Debatte gegen die KI antraten, lautete das Ergebnis unentschieden. Einen eigenen Standpunkt darlegen, diesen im Laufe einer komplexen Diskussion weiter zu entwickeln und argumentativ auf einen Gegner einzugehen – schien das nicht bisher noch eine Fähigkeit zu sein, die exklusiv dem Menschen zugeschrieben werden konnte? Stellt der „Project Debater“ jetzt eine ernstzunehmende Konkurrenz dar?
Das IBM-Projekt begeistert und verstört mich zugleich tief. Und allzu viel wissen wir ja auch gar nicht, vor allem nicht darüber, wie universell die argumentativen Fähigkeiten des „Project Debater“ sind. Es gibt ja Themen, über die sich leichter und Themen, über die sich schwerer debattieren lässt. Vor allem im Bereich von ethischen Fragestellungen ist die Frage, was das ‚bessere Argument‘ ist, nicht einfach auf Basis von Wissen zu entscheiden.
Wie bei wohl allen neuen Technologien geht es hier um die Frage der Folgenabschätzung. IBM selbst betont ja nachdrücklich die dienende Seite der Software, die auf künstlicher Intelligenz aufbaut. Man kann sich aber auch ganz leicht vorstellen, dass diese Systeme missbraucht werden. Nicht zuletzt aus Film und Literatur sind wir mit solchen Dystopien ja vertraut. Man muss sich nur vorstellen, man verknüpft das System mit einem Facebook-Account und macht daraus, entsprechend eingestellt, so etwas wie einen Super-Social-Bot. Ich denke, dass Gesellschaften hier Vorsorge treffen müssen. Es muss ein Recht darauf geben, dass eine Person weiß, ob sie mit einer Maschine oder einem wirklichen Menschen argumentiert.
politik-digital.de: IBMs Vision ist es, dass ihre Software den Menschen in Zukunft bei der Meinungsbildung zu verschiedenen, teilweise hochkomplexen, Themen unterstützt. Sehen Sie das als Chance oder Gefahr? Welche weiteren Anwendungsmöglichkeiten halten Sie für denkbar?
Wie gesagt: Es ist natürlich beides. IBM betont in ihrer Öffentlichkeitsarbeit natürlich die positiven Seiten, etwa im Sinne von Arbeitserleichterung: In einer Rechtsanwaltskanzlei bereitet die Software bestimmte Vorgänge für den Anwalt vor etc. Umgekehrt wird das in manchen Bereichen auch Jobs kosten. Was mir allerdings komplett fehlt, ist die ganze ethische Reflexion darüber, was solche Systeme für eine Gesellschaft bedeuten, welches Potenzial und welche Gefahren sich ergeben. Hier müsste es unbedingt einen Ethikrat oder etwas Ähnliches geben. Denn die Gefahren sind dort handfest zu greifen, wo wir dann irgendwann nicht mehr wissen, ob wir mit einem Computer kommunizieren oder nicht.
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Bild des Interviewpartners: © Thomas Susanka