Im Oktober hatte sie noch vor dem Paul-Löbe-Haus im Berliner Regierungsviertel gegen die Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung demonstriert. Nun haben SPD und Union sie im Koalitionsvertrag vereinbart, doch Rena Tangens will weiter dagegen vorgehen. Tangens’ Themen sind der Datenschutz und das Internet. Als Künstlerin und politische Aktivistin beschäftigt sie sich seit Jahrzehnten damit, künstlerische Arbeit und politischer Aktivismus verweben sich in ihrem Leben.
Außer ihr sind an diesem hoffnungsfrohen Oktobertag drei weitere Datenschutzaktivisten von der Mahnwache übrig geblieben. Einer von ihnen ist padeluun, der langjährige künstlerische und politische Weggefährte von Tangens. Die Entwicklung von Avantgarde-Künstlern, die mit (Punk-)Musik ebenso wie mit Super 8-Filmen und Performances experimentiert haben, zu Flyer-verteilenden Datenschutzaktivisten haben sie größtenteils gemeinsam erlebt. Was zunächst wie ein Bruch erscheint, kann tatsächlich als konsistente Entwicklung innerhalb eines künstlerischen Rahmens interpretiert werden.
Demokratie als Art d’Ameublement
Alles begann 1984 im westfälischen Bielefeld mit dem gemeinsamen Kunstprojekt und der Galerie „Art d’Ameublement“, auf Deutsch etwa „Einrichtungskunst“. Es war der Versuch, die Grenzen zwischen Künstler und Zuschauer sowie zwischen Produkt und Prozess einzureißen. Inspiriert von Joseph Beuys („Jeder ist Künstler“), Yves Klein („Alles ist Kunst“) und dem anti-autoritären Geist der Punk-Bewegung wollten padeluun und Tangens Räume schaffen, in denen Kreativität und Produktivität sich nicht in einem käuflichen Produkt ausdrücken, sondern als Prozess ermöglicht werden sollten. Das Ergebnis war eine Mischung aus Performances und Installationen, in denen sie als Künstler zurücktraten und die Zuschauer aktiv werden sollten. Sie nannten diese Art von Kunst „Rahmenbau“. Bis heute will Rena Tangens einen gesellschaftlichen Rahmen mitgestalten, in dem sich Menschen „willkommen fühlen, selber aktiv zu werden“. Der Begriff „Rahmenbau“ drückt ihr Verständnis von Demokratie und dem Nullpunkt aus, an dem Kunst und Politik miteinander verschmelzen.
Das Kunstobjekt Chaos Computer Club
Mit dem Einzug des Chaos Computer Clubs (CCC) in die Ausstellungsräume von padeluun und Tangens begann 1985 der Übergang von der vielfältigen „Art d’Ameublement“ zu Themen der elektronischen Kommunikation. Als Ausstellungsstück diente ein selbstgebautes Modem in einer Kaffeetasse, mit dem die Nachrichten der Washington Post des kommenden Tages gelesen werden konnten. Es war ein Schlüsselmoment, welcher der Künstlerin eine Zukunft aufzeigte, in der neue Formen der Kommunikation und Partizipation möglich wurden und eine öffentlich zugängliche Plattform für Ideen entstand. Diese neue Welt war noch rahmenlos und, so Tangens, „diese neue Welt wollten wir mitgestalten“.
Modems durften nun bei keiner Ausstellung mehr fehlen und die beiden Künstler gründeten zusammen mit anderen den Verein FoeBuD e. V., in dem sich Menschen sammelten, die mit Hilfe von Technik etwas verändern wollten. Sie bauten die Mailbox „Bionic“ in Bielefeld auf, außerdem ein Netzwerk in Jugoslawien, mit dem Friedensgruppen während des Krieges ihren gewaltfreien Widerstand organisieren konnten. Tangens machte damals die praktische Erfahrung, einen Netzknoten zu kontrollieren, was sie für die heute so offenkundigen Schwachstellen digitaler Kommunikationsnetzwerke sensibilisierte. Sie erfuhr, wie einfach es war, alle Nachrichten zu lesen, die über den Netzknoten liefen. „Das Macht-Ungleichgewicht zwischen den Technikern, die diese Knotenpunkte besitzen, und den Nutzerinnen und Nutzern“ sollte nicht noch weiter auseinandergehen. Daher wurden Verschlüsselungstechniken integriert, und Anfang der 1990er brachte der Verein das erste deutsche Handbuch für die „Pretty-Good-Privacy“ (PGP) Verschlüsselung heraus.
„Die stärksten Kinder fressen die Revolution“
Mit der Umbenennung von FoeBuD in Digitalcourage e.V. im Jahr 2012 entledigte man sich nicht nur des sperrigen Namens, es entsprach auch der Wandlung der Arbeit des Vereins über die Zeit: Digitalcourage musste sich seit den ersten AOL-CDs 1996 von der Gestaltung der elektronischen Vernetzung zurückziehen und konzentrierte sich fortan auf den Widerstand gegen die Vereinnahmung durch staatliche und Profitinteressen. Digitale Zivilcourage und eine kritische Öffentlichkeit wurden für den Verein immer wichtiger. Im Jahr 2000 verlieh er die ersten Big Brother Awards, um ironisch herausragende Überwachung öffentlich zu machen. Der „Rahmenbau“, die Ausgestaltung des Internets, wurde dennoch mehr und mehr von globalen Akteuren dominiert. Erst kam AOL, dann die staatliche Videoüberwachung und schließlich monopolistische Internetdienstanbieter wie Google, Amazon oder Facebook – und schließlich die Geheimdienste. Tangens beschreibt das in den Worten von Tim Berners-Lee: „Nicht die Revolution frisst ihre Kinder, sondern die stärksten Kinder fressen die Revolution“.
Privatisierung und Überwachung
Das Internet stellt für Tangens damals wie heute eine Öffentlichkeit dar, in der Grundrechte wie Pressefreiheit und Privatsphäre Gültigkeit haben müssen: Sie hält den gleichberechtigten Zugang ebenso wie gleichberechtigte Gestaltungsmöglichkeiten für eine notwendige Grundversorgung in einer Demokratie. Sie kämpft gegen die Privatisierung des öffentlichen Raums Internet durch „Firmenplattformen, wo die Regeln des Konzerns gelten“. Und sie setzt sich dagegen zur Wehr, dass die digitale Öffentlichkeit einem Überwachungsregime staatlicher Institutionen untersteht, dessen demokratische Legitimation mehr als fraglich sei. Tangens‘ Kritik richtet sich gegen die regierenden politischen Akteure, die in ihren Augen die Auseinandersetzung in beiden Bereichen scheuen.
Was für die Datenschutzaktivistin Tangens „eine große Gefahr für die Demokratie“ darstellt, ruft bei anderen kaum ein Schulterzucken hervor. Dieser Diskrepanz ist sie sich durchaus bewusst. Sie führt ihn auf ein fehlendes Bewusstsein für die Folgen der schwer greifbar zu machenden digitalen Überwachung zurück. Rena Tangens sieht es als ihre Aufgabe an, dieses fehlende Bewusstsein zu wecken, wenn sie betont, dass wir die meisten Internetdienste zwar nicht mit Barem, aber mit den eigenen Daten bezahlen. Daten, die dann nicht nur zur Kundenklassifizierung und zur Personalisierung der Werbung verwendet würden. Ebenso würden „detaillierte Persönlichkeitsprofile“ erstellt, die der „gezielten Diskriminierung und Manipulation“ dienten – für Tangens eine fatale Entmündigung.
Tangens ist davon überzeugt, dass Überwachung das Verhalten der Menschen verändert. Vor allem diejenigen, „die in den realen Machtverhältnissen überleben müssen“, etwa als Betriebsrat, würden die Folgen konkret spüren. Noch mehr Informationen oder Daten würden dabei weder die großen Probleme der Menschheit wie Hunger lösen, noch den Terrorismus bekämpfen. Laut einer Studie der Oxford Research Group zähle dieser sowieso nicht zu den großen Problemen der Menschheit. Oberflächlich kann man Rena Tangens leicht als Verschwörungstheoretikerin abstempeln. Aber die Zeiten für Verschwörungstheoretiker sind außerordentlich gut: Edward Snowden hat wohl einigen von ihnen Recht gegeben und sie von ihrem Stigma befreit.
Der Traum einer anderen digitalen Gesellschaft
Und wie sollte die digitale Öffentlichkeit ihrer Meinung nach aussehen? Wie würde Rena Tangens den Rahmen gestalten?
Alles fange mit der Befähigung der Menschen an, die eigenen Daten selbst zu kontrollieren. Die digitale Identität müsse für die Menschen nachvollziehbar und selbst bestimmbar sein. Konkret würde das bedeuten: ein Ende staatlicher Überwachung im Internet sowie die Pflicht für Internetdienstanbieter, das Einverständnis ihrer Nutzer zur Verwendung ihrer Daten einzuholen.
Tangens‘ Kritik zielt dabei vor allem auf die Monopolbildung, die im Internet fruchtbaren Boden findet. Soziale Netzwerke erfüllen eben ihren Sinn, wenn sich alle Menschen in einem einzigen versammeln und jede mit jedem kommunizieren kann. Ebenso kann nur ein Großkonzern wie Google sich die Kosten für die Serverinfrastruktur leisten, die ein effizientes Durchsuchen der riesigen Datenmengen im Internet möglich machen. Von der EU fordert sie, die Interaktion zwischen sozialen Netzwerken mittels Datenportabilität und offenen Schnittstellen gesetzlich festzuschreiben sowie einen gemeinsamen Suchindex für Europa aufzubauen, den Anbieter von Suchalgorithmen gleichberechtigt durchforsten dürfen. Tangens‘ Programm besteht aus einem gesetzlichen Rahmen, der die Kontrolle der eigenen Daten zur Standardeinstellung macht und einen funktionierenden Wettbewerb im Internet garantiert, sowie dem Aufbau einer Open-Access-Infrastruktur. In den vergangenen Jahren musste ihr ursprünglicher Wille zur Gestaltung mehr und mehr einem Abwehrkampf mit den Realitäten weichen, doch davon lässt Rena Tangens sich nicht kleinkriegen:
“Ich träume davon, dass ich wieder einmal mehr Zeit habe, über die Gestaltung von positiven Aspekten des Netzes oder des Lebens nachzudenken, anstatt den Kampf dagegen zu führen, dass diese Träume in Zukunft komplett unmöglich gemacht werden. Ich sehe die Notwendigkeit, für Freiheit zu kämpfen.”
Zum Träumen wird die Aktivistin Tangens leider so schnell nicht kommen: Die Vorratsdatenspeicherung steht nun im Koalitionsvertrag. Es bleibt jedoch fraglich, ob sie durchgesetzt werden kann. Zumindest wird das nicht ohne Widerstand passieren, solange Rena Tangens noch am Rahmen mitbauen will.
Bild: (C) Rena Tangens