In der Nachwahlschlacht präsentiert sich das Internet als bedeutendes Forum
Schon im Vorfeld der Wahlen hat das Internet eine nie zuvor da gewesene Rolle gespielt;
insbesondere bei der Sammlung von Spenden haben einige Kandidaten hier großartige Erfolge erzielt.
Nun, da die Wahl vorbei ist – oder auch gerade nicht – mausert sich der Cyberspace auch zum
bedeutenden Forum und Organisationszentrum für die Proteste gegen die Wahlverwirrungen und
-irrungen in Florida.
Während eine wachsende Schar von Juristen sich die Paragraphen um die
Ohren schlägt, und die Wähler in den Straßen demonstrieren, wird der Kampf um die 25
entscheidenden Wahlmännerstimmen Floridas auch virtuell geführt.
Die offiziellen Seiten der Kandidaten Al Gore und George W. Bush sind dabei vergleichsweise
zurückhaltend. Der zukünftige Präsident darf sich halt nicht direkt im juristischen Schlamm
wälzen, es gilt den Schein von Staatsmännigkeit zu wahren. "Gewinnen wollen, um jeden Preis",
dieser Eindruck darf in der Öffentlichkeit nicht entstehen. Nichtsdestotrotz sind bezüglich
Einsatz und Aufgeregtheit im Nachwahlkampf unterschiedliche Akzente zu erkennen.
Das virtuelle Kampagnenzentrum von Al Gore und Joe Liebermann
begnügt sich mit einem Statement des Wahlkampfmanagers Bill Daley vom 11. November: "Die Wahl
ist noch nicht vorbei". Wer hätte gedacht, dass er so lange recht behält. Wer hätte gedacht,
dass ausgerechnet der von einer Demokratin gestaltete Wahlzettel so viel Unmut und Verwirrung
bei den Demokraten hervorrufen würde. Damit diese Stimmung auch entsprechend kanalisiert werden
kann, können aufgebrachte Floridianer und andere Wähler hier auf einem vorgedruckten
Formular Unregelmäßigkeiten und Schwierigkeiten
bei der Stimmabgabe melden. Detailgerecht aufbereitet für die Armada von Juristen.
Ganz anders bei der "Grand Old Party" des
George W. Bush und seines running mate. Hier kann man sich der subtilen Suggestionskraft des
"Bush-Cheney Recount Fund" kaum entziehen
und sogleich auch seinen Beitrag in finanzieller Form leisten. Es sind wohl noch die positiven
Erfahrungen mit Internet-Spenden aus der Wahlkampfphase im Gedächtnis. Im Gegensatz zu den
Demokraten lassen sich hier auch zahlreiche Kommentare zu den
Entwicklungen nach der Wahlnacht abrufen. Warum Dubyu eigentlich schon gewonnen hat, und die
Demokraten im Interesse der Nation endlich ihre Niederlage eingestehen sollten.
Abseits der offiziellen Seiten jedoch kehren sich Engagement und Empörung um. Hier
dominieren die Aktivitäten der Demokratischen Parteigänger und ihrer Symphatisanten. Sie sind
diejenigen, die sich durch einen unübersichtlichen Stimmzettel und Schwierigkeiten bei der
Auszählung benachteiligt fühlen. Zudem sind sie es auch, die einem äußerst knappen, aber
stetigem Vorsprung Bushs hinterherlaufen. Im virtuellen Raum debattieren sie über den Wert von
Demokratie, die Bedeutung einer Nachzählung und die Forderung nach einer Neuwahl.
Auf der Seite von
trustthepeople.com, einer extra von democrats.com kreierten Seite,
wird Al Gore als der 43. Präsident der USA gesehen – wenn nur der Wählerwille seine rechtmäßige
Geltung erhält. Zu diesem Zweck besteht unter anderem die Möglichkeit, die Innenministerin von
Florida, Katherine Harris, eine Republikanerin, zum Rückzug aus der Verantwortung für die
Bestätigung der Wahl aufzufordern. Auch kann hier jeder Wähler eine beeidigte Erklärung zu
Schwierigkeiten bei seiner Stimmabgabe in Palm Beach County einreichen. Des weiteren können
eine Petition für eine Neuwahl unterzeichnet, Spenden gemacht und ein Newsletter für Aktivisten
abonniert werden.
Eine Koordinierungsstelle für die zahlreichen Demonstrationen, die nicht nur in Florida
stattfinden, bietet Countercoup.org. Der Name der Seite
läßt dabei keinen Zweifel, wie der bisherige Wahlausgang gesehen wird. Für Samstag, den 18.
November, werden dort Kundgebungen für eine demokratische Präsidentenwahl in 144 Städten der
USA organisiert. Da für diesen Tag das endgültige Ergebnis, inklusive der Briefwahlstimmen, zu
erwarten ist, wird die Stimmung in den Straßen mit Interesse zu beobachten sein. Von einer
ersten Protestwelle am 11. November lassen sich Bilder und persönliche Erfahrungsberichte
Beteiligter abrufen.
Eine weitere Seite, workingforchange.com, bemüht sich um
Aufklärung der Unregelmäßigkeiten in Florida und die Herbeiführung einer Neuwahl, durch die
massenhafte Versendung von eMails an die schon erwähnte Katherine Harris und die beiden
Hauptdarsteller auf Seiten der Republikaner, George W. Bush und James Baker III.
Petitionsschreiber können sich dabei eines vorgefertigten Textes bedienen oder auch einen
eigenen Protest verfassen.
Die Anhänger von Bush, die sich nach der ursprünglichen Wahl, der Nachzählung und der
stichprobenartigen Handauszählung als Gewinner sehen, können sich natürlich auch benachteiligt
fühlen. Die schon gewonnen geglaubte Wahl soll ihnen nun durch Juristen gestohlen werden?
Im Vergleich zu den Bemühungen der Demokraten sind Mobilisierungszentren der Republikaner im
Internet jedoch schwer zu finden. Und was schwer zu finden ist, ist praktisch nicht vorhanden.
Ein berührendes und besinnliches Angebot – das bewußt macht, welchem Druck Menschen in
diesem Streit ausgesetzt werden – macht freerepublic.com. Hier kann man an die augenblicklich
im Mittelpunkt stehende Innenministerin von Florida unterstützende und
aufbauende eMails schicken. Ob die allerdings in der Flut der Protestnachrichten noch
auffallen…
Eine Petition der anderen Art kann man
hier finden. Im Interesse der Nation und zur Vermeidung einer wirklichen Verfassungskrise
kann der geneigete Bürger die beteiligten Offiziellen in Florida und die beiden
Präsidentschaftskandidaten um die endgültige Anerkennung des Wahlergebnisses in Florida
bitten – freilich erst nach Eingang aller Briefwählerstimmen.
Wie lange dieser Streit noch anhält? Wer weiß. Auf einer eigens dieser Frage gewidmeten
Seite, PerpetualElection.com, ist schon von der "ewigen Wahl"
und der "unendlichen Geschichte" die Rede. Welche Formen die Auseinandersetzung noch annehmen
wird, mag man sich vielleicht gar nicht vorstellen wollen. Daß das Internet eine wichtige Rolle
bei der Mobilisierung des Protests und der Diskussion der Konsequenzen dieser Jahrhundertwahl
spielt und spielen wird, kann als sicher gelten. Wenigstens etwas.