Menschen, die eine chronische Krankheit haben, sind von analogen Formen des politischen Engagements oft durch mangelnde Barrierefreiheit ausgeschlossen oder können diese durch ihren gesundheitlichen Zustand nicht ergreifen. Die Digitalisierung bietet für chronisch Kranke neue Möglichkeiten politisch aktiv zu werden, da sie politische Teilhabe und Sichtbarkeit von zuhause aus verspricht. Um Einblicke in das Leben eines politischen Aktivist*innen mit chronischer Krankheit zu erlangen, habe ich drei Menschen interviewt und sie gebeten, ihre Erfahrungen zu teilen.
Gruppen von politisch aktiven Bürger*innen ziehen in letzter Zeit unter dem Motto:„Friday for future“ durch die Innenstädte dieser Welt. Mit Schildern und Parolen bewaffnet laufen Groß und Klein durch den öffentlichen Raum, um Aufmerksamkeit für ihr politisches Anliegen zu generieren. Keine Demo ohne Sitzblockaden und ein bisschen Streit mit der Polizei. Für sie ganz normal, ganz selbstverständlich.
Doch genau das ist es eben für politische Aktivist*innen, die eine chronische Krankheit haben nicht, ob diese nun psychischer und/oder physischer Art sein mag. Denn chronische Krankheiten haben die Macht, einen Menschen für Tage oder Wochen daran zu hindern die eigenen Vier-Wänden oder im schlimmsten Fall das Krankenhaus zu verlassen. Die US-amerikanische Autorin und Künstlerin Johanna Hedva ist davon selbst betroffen. In ihrem Text „Sick Woman Theory“ schildert sie, wie sie zur Zeit der BlackLiveMatters-Proteste in ihrer Wohnung lag und nicht an den Protesten in einem nahgelegenen Park teilnehmen konnte, da ihre körperlichen Beschwerden es für sie unmöglich machten. Von ihrer Krankheit in die politische Unsichtbarkeit gezwungen, formulierte sie folgende Frage:
„How do you throw a brick through the window of a bank if you can’t get out of bed?“
(Übersetzung: Wie soll ich einen Backstein durch die Scheiben einer Bank werfen, wenn ich es nicht aus dem Bett schaffe?)
Wie kann also ein Mensch in einem kranken Körper politisch aktiv werden? Hedva arbeitet sich dafür an der Definition „des Politischen“ nach Hannah Arendt ab, welche nur das Öffentliche als politisch anerkennt, und damit Menschen, die nur teilweise oder gar nicht am öffentlichen Leben teilnehmen können, vollständig entpolitisiert. Menschen, die eine chronische Krankheit haben und die politisch aktiv sein wollen, kämpfen also nicht nur für ihr politisches Ziel, sondern befinden sich auch in einem ständigen Kampf um Sichtbarkeit. In einer Gesellschaft, in der Krankheit als etwas außerhalb der Norm, als ein verstreichendes Übel wahrgenommen wird, sind diese Menschen besonders häufig von unterschiedlichen Arten der Diskriminierung gleichzeitig betroffen.
Digitalisierung als Chance
Doch die Zeiten, zu denen eine Demonstration nur in der analogen Welt stattfand, sind vorbei. Digitale Medien spielen heute eine essentielle Rolle in der Organisation und Durchführung von politischen Veranstaltungen. So ergeben sich Chancen für Menschen politisch aktiv zu werden, die eine Krankheit haben, welche ihnen eine Beteiligung an politischen Aktionen an manchen oder allen Tagen nicht möglich macht. Sie können vielleicht keine Steine durchs Fenster werfen, aber dafür Steine ins Rollen bringen, vor den Fenstern ihres Browsers.
Um herauszufinden wie die Digitalisierung chronisch kranken politischen Aktivist*innen hilft und in wieweit sie sich dadurch aus der Unsichtbarkeit befreien können, habe ich ein Interview mit drei Menschen geführt, die wissen, wie es ist, politischen Aktivismus mit einer chronische Krankheit zu vereinen, nämlich an manchen Tagen sehr, sehr schwer.
Der Beginn ihrer Politisierung fand bei zwei der von mir Befragten im Internet und den Sozialen Medien statt. Dort haben sie sich über die Suche und den Austausch mit Gleichgesinnten politisiert und die Sozialen Medien haben ihnen zugleich auch das Gefühl genommen, mit ihren politischen Ansichten und ihrer Krankheit allein zu sein. Durch die neuen technischen Möglichkeiten wurden Menschen hier zusammengebracht, für die das Besuchen eines politischen Treffens mit Einschränkungen verbunden oder sogar schlicht unmöglich ist.
Auf dem Weg in den politischen Aktivismus treffen chronisch kranke Menschen auf viele weitere Hindernisse, so sind Organisationsorte oft nicht barrierefrei zu erreichen oder die Veranstaltungsarten nicht inklusiv geplant. Eine der Aktivist*innen, die anonym bleiben möchte, schrieb: „Meine Krankheit macht mich automatisch unverlässlich, egal wie wichtig mir etwas ist.“ und nimmt damit Bezug auf die Unberechenbarkeit von vor allem psychischen aber auch physischen Krankheiten, für die unter abled oder neurotypical1 Aktivist*innen oft wenig Verständnis herrscht.
Im Wahlkampf werden vornehmlich psychische Krankheiten als eine Schwäche ausgelegt, teils wird sogar versucht, die Kandidaten damit zu diskreditieren, was zur Folge hat, dass es nur wenig offen chronisch kranke Politiker gibt und damit dieser Gruppe sowohl eine angemessene Repräsentation als auch ein Vorbild verwehrt bleiben. Diese Stigmatisierung zieht sich bis in den politischen Aktivismus, in dem den chronisch kranken Aktivist*innen das Gefühl gegeben wird, aufgrund ihrer Eingeschränkten weniger wichtig zu sein.
„Es fällt uns nun mal schwer, auf der Straße laut und sichtbar zu sein und damit geht oft einher, weniger wichtig oder weniger aktivistisch wahrgenommen zu werden”-@Punbinary
Dabei enthält politischer Aktivismus viele weitere Formen neben Demonstrationen, die gleichwertig wahrgenommen werden sollten, was oft aber noch nicht der Fall ist. So nutzen alle drei der Befragten vor allem Soziale Medien für ihre politischen Ziele. Hier gibt es die Möglichkeit, sich nicht nur zu informieren, sondern auch Informationen zu teilen oder diese aufzubereiten und zu verbreiten, sei es über den eigenen Blog oder Twitter. Doch auch „Briefe“ an Angeordnete, das Unterschreiben von Online-Petitionen oder Spenden sind Möglichkeiten, politisch aktiv zu werden, auch wenn man das Haus nur schwierig verlassen kann. Messenger und E-Mail ermöglichen es den Aktivist*innen, die das Teammeeting nicht besuchen können, trotzdem alle Informationen zu wichtigen Beschlüssen und zukünftigen Plänen zu erhalten oder diese digital auszudiskutieren.
Bei der Frage, wie die nachkommenden chronisch kranken Menschen den Weg in den politischen Aktivismus finden sollen, legten die Interviewpartner*innen großen Wert darauf zu betonen, wie wichtig es ist, sich dafür nach den eigenen Fähigkeiten zu richten und sich nicht permanent zu zwingen, die eigenen Grenzen zu überschreiten. Man müsse sich selbst Pausen zugestehen und offen mit der eigene Krankheit umgehen. Einen Ratschlag der auch für nicht Betroffene gilt: Gebt Menschen Chancen, gemäß ihren Fähigkeiten aktiv zu werden und respektiert ihre Grenzen.
Gesellschaftliche Verantwortung
Die Digitalisierung bietet also Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Einschränkungen unterschiedliche und neue Wege politisch aktiv zu werden entsprechend ihrer persönlichen Möglichkeiten. Sie hilft außerdem Menschen, die sonst zur Unsichtbarkeit verdammt wären, politische Sichtbarkeit zu erlangen. Allerdings werden die von ihnen verwendeten Mittel oft noch nicht als gleichwertig angesehen. Obwohl ihre Kampf um Sichtbarkeit in der unseren Digitalisierten Welt bereits hochgradig politisch geprägt ist, wie Hedva in ihrem Text bzw. Vortrag genauer schildert, welchen ich nur empfehlen kann. (Text: http://www.maskmagazine.com/not-again/struggle/sick-woman-theory ;Vortrag: https://vimeo.com/144782433)
„Einerseits habe ich zwar immer noch ein Problem damit mich selber politisch aktiv zu nennen, […], aber andererseits ist meine Existenz als chronisch kranker Mensch, der auch öffentlich darüber spricht, schon sehr politisch“-@AlinaManns
Die Aufgabe von abled oder neurotypical1 Menschen und Aktivist_innen ist es, diese neuen digitalen Formen des politischen Aktivwerdens anzuerkennen, sowie sie gleichberechtigt und als wichtig zu behandeln. Ebenso sollten Gedanken zu Barrierefreiheit in den Vordergrund treten, wenn um die Organisation von Treffen und Veranstaltungen geht, um den Zugang für chronisch kranke Menschen einfacher zu machen und ihre Unsichtbarkeit und Stigmatisierung nach und nach abzubauen.
Hedva´s „Sick Woman Theory“ , die sich selbstverständlich nicht nur auf Frauen beschränkt, will unsabled oder neurotypical1 Menschen beibringen, wie wichtig es ist, die eigene Empathie zu erweitern und Menschen mit chronischen Krankheiten zu begegnen, ihnen zu zuhören und sie schlicht wahrzunehmen, um ihnen Wege aus der Unsichtbarkeit zu ebnen.
Ich bedanke mich bei meinen Interview-Partner_innen @Punbinary ,@AlinaManns und einer Aktivist_in, die Anonym bleiben möchte.
1.Nicht ableisistischer Begriff für „gesunde“ Menschen ↩
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Text: CC-BY-SA 3.0