Bis morgen findet in Nairobi das globale Internet Governance Forum (IGF) statt, wo Aspekte der internationalen Netzpolitik diskutiert werden. Zu Wort kommen dabei Vertreter aller gesellschaftlichen Bereiche – das IGF gilt als Vorbild für eine neue partizipatorische Politik. Einen Beitrag zur Debatte über Stärken und Risiken des sogenannten Multistakeholder-Modells liefert die MIND-Publikation "Internet Policy Making".
MIND steht für Multistakeholder Internet Dialog – und der Name der vom Internet & Gesellschaft Co:llaboratory herausgegebenen Publikationsreihe ist Programm: Thema des 80 Seiten starken englischsprachigen Magazins (Link zum PDF) mit dem Titel "Internet Policy Making" ist das Multistakeholder Modell. Damit ist ein politisches Verfahren gemeint, bei dem alle betroffenen Gruppierungen beteiligt werden sollen. Nach diesem Ansatz sollten politische Entscheidungen nicht mehr ausschließlich von gewählten Volksvertetern, sondern auch unter Einbeziehung weiterer Akteure aus Wirtschaft, Wissenschaft und der Zivilgesellschaft getroffen werden. Es handelt sich also um eine Art permanenten Runden Tisch, der sich nach Bewältigung einer Krise nicht wieder auflöst, sondern sich dauerhaft eines politischen Themas annimmt. Anwendung findet dieses Prinzip bisher fast ausschließlich in der Netzpolitik: seit 1998 in der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN), der internationalen Verwaltung der Internetadressen und Domains, sowie seit 2006 im Internet Governance Forum (IGF), das auf Initiative der Vereinten Nationen als Diskussionsplattform ins Leben gerufen wurde.
Dass das Modell seinen Ursprung in der politischen Steuerung des Internet fand, ist indes kein Zufall. "Das Internet fordert einen neuen Ansatz der Politikgestaltung für eine globale Gemeinschaft von Milliarden von Menschen", schreibt Bertrand de La Chapelle im Einleitungstext des MIND-Magazins. Die politische Ordnung des seit dem 17. Jahrhundert etablierten Westfälischen Staatensystems, in dem ausschließlich souveräne Nationalstaaten die internationale Politik gestalten, sei überholt, argumentiert der Vordenker des Multistakeholder-Modells. Als globales System schaffe das Internet transnationale Kommunikationsnetzwerke, welche die Grenzen nationaler Politik- und Rechtssphären überschreiten und das Territorialitätsprinzip von Gesetzen aushebeln. Zudem würden private Akteure neue digitale Räume schaffen, in denen beispielsweise "die mehr als 600 Millionen Facebook-Nutzer in erster Linie unter Facebook-Gesetz stehen (seinen Nutzungsbedingungen)", schreibt La Chapelle. Zur Gestaltung eines transnationalen Raumes, innerhalb dessen sich eine Vielzahl unterschiedlicher Akteure vernetzen, miteinander kommunizieren, gemeinsam wirtschaften und global agierend Einfluss nehmen, brauche es daher neue adäquate politische Instrumente. La Chapelle fordert einen Paradigmenwechsel in der Politik: weg von traditionellen Formen der Regierungsarbeit hin zu einem inklusiven Modell, das die Partizipation aller Betroffener ermögliche. Dieser Ansatz könne existierende Regierungsstrukturen bereichern und Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung ausbauen – und damit auch demokratiefördernd wirken.
Für eine erfolgreiche Umsetzung des Verfahrens müssten gewisse Prinzipien, Normen und Verfahrensweisen implementiert werden. Dazu gehörten unter anderem die Offenheit der Gremien für alle Interessierten, die Offenlegung aller Dokumente und die grundsätzliche Gleichberechtigung aller Teilnehmer, unabhängig von ihrer jeweiligen Stellung als Vertreter einer staatlichen Institution oder als Sprecher der Zivilgesellschaft. ICANN und IGF sind für La Chapelle die Laboratorien, in denen diese fundamentalen Prinzipien in die Praxis umgesetzt werden – mal mehr, mal weniger erfolgreich.
Unerwähnt lässt der Autor dabei nicht, dass ICANN über Entscheidungskompetenz verfügt, das IGF hingegen nicht. Das Forum dient bisher lediglich zum Austausch von Informationen und Stellungnahmen – und wird deshalb auch immer wieder zur Zielscheibe von Kritik. La Chapelle erkennt diese Herausforderungen und Fallstricke des Verfahrens zwar an – betont aber den Nutzen des Forums für den Prozess der politischen Entscheidungsfindung. Es geht ihm dabei nicht nur um Fragen der Netzpolitik, ein solches Modell könne auch in anderen Politikbereichen implementiert werden und mehr Partizipation und Deliberation ermöglichen.
Deliberativ ist auch das von Wolfgang Kleinwächter herausgegebene MIND-Magazin selbst. Den Vorschlag La Chapelles kommentieren jeweils drei Vertreter der vier Sphären Regierung und Verwaltung, Privatsektor, Zivilgesellschaft sowie technische und akademische Gemeinschaft und diskutieren Potenziale und Herausforderungen des Modells in der praktischen Anwendung.
Die französische Europaabgeordnete Catherine Trautmann problematisiert in ihrem Beitrag vor allem die Frage der politischen Legimität einer solchen globalen Steuerung des Internet. Diese Legimität könne sich nicht alleine aus privaten Interessen schöpfen, auch wenn diese von einer starken Zivilgesellschaft kontrolliert würden. Politische Autoritäten müssten innerhalb der globalen Steuerung des Internet nach wie vor eine wichtige Rolle spielen. Ganz ähnlich sieht das auch EU-Kommissarin Neelie Kroes, die sich jüngt mit Kritik an der Missachtung von Regierungsbeschlüssen in der ICANN zu Wort gemeldet hat.
Everton Lucero, Mitarbeiter im brasilianischen Außenministerium, äußert in seinem Artikel "Is there a political will?" Kritik an den bisherigen Ergebnissen des IGF. Das Gremium sei nicht in der Lage gewesen, einen vernünftigen Koordinierungsmechanismus zu implementieren. In Abwesenheit eines internationalen Regimes hätten sich stattdessen kleine selektive und intransparente Gruppen mit ihren Ansätzen etabliert, bemängelt der Diplomat. Hier würden Entscheidungen hinter verschlossenen Türen getroffen, die teilweise weitreichende Auswirkungen hätten und die Einflussmöglichkeiten von Lobbygruppen erhöhten. Ein Beispiel sei das Anti-Counterfeit Trade Agreement (ACTA), das Maßnahmen zur Bekämpfung von Urheberrechtsverletzung festlegt und kommenden Samstag von den USA und Japan unterzeichnet unterzeichnet wird.
Direkte Partizipation, wie von La Chapelle gefordert, sei zwar wünschenswert, in der Praxis jedoch nur beschränkt umsetzbar, argumentiert Peter Hellmonds von Nokia Siemens Networks. Vor allem bei der Einbeziehung der über zwei Milliarden Internetnutzer stelle sich die Frage der Repräsentativität. So verfügen Experten aus der Netzgemeinschaft zwar über ausreichend Expertise und hätten sich durch transparenten und offenen Dialog mit anderen "Netzbürgern" ein gewisses Vertrauen erarbeitet, besäßen jeodch kein politisches Mandat. Tatsächliche politische Legimität hätten nur Volksvertreter, auch wenn es diesen wiederum oft an Fachwissen mangele. Multistakeholder-Modelle seien deshalb zwar eine willkommene Ergänzung, könnten aber die traditionellen Politikverfahren nicht ersetzen.
Grundsätzliche Unterstützung erhält La Chapelles Vorschlag von Anriette Esterhuysen von der Association for Progressive Communications, einem internationalen Netzwerk zivilgesellschaftlicher Organisationen. Es sei jedoch nicht damit getan, einfach alle an einen Tisch zu bringen. Entscheidend sei es, die ungleiche Machtverteilung zwischen multinationalen Unternehmen, die über immense Ressourcen verfügen, und kleinen und mittelständischenUnternehmen sowie zivilgesellschaftlichen Akteuren auszugleichen. Damit Demokratie tatsächlich gestärkt werde, brauche es Prinzipien und Prozeduren, die sich auf die Menschenrechte und das Interesse der Öffentlichkeit begründen. Zudem müssen Entscheidungen rückverfolgbar sein und es müsse eine stärkere Rechenschaftspflicht eingeführt werden, fordert die Südafrikanerin in ihrem Beitrag.
Einen aufschlussreichen Einblick in die Arbeitsweise eines zivilgesellschaftlichen Gremiums bietet Olivier M. J. Crépin-Leblond in seinem Beitrag "Bottom Up vs. Top Down: ICANN’s At Large in Internet Governance". Crépin-Leblond koordiniert die Arbeit des At-Large Advisory Committee (ALAC), in dem mehr als 100 Gruppen die Interessen der Nutzer innerhalb der ICANN vertreten, und berichtet von den Herausforderung bei der Arbeit mit Ehrenamtlichen. Beschränkte Ressourcen und die immense Informationsflut belaste viele von ihnen und führe nicht selten zu Burn-out-Syndromen. Es stelle sich außerdem die Frage, inwieweit die Teilnehmer tatsächlich im öffentlichen Interesse handeln würden. Eine Entlohnung des Zeitaufwandes könne dem entgegenwirken, sei aber selbst unter den Mitgliedern des Kommitees umstritten.
Einen Paradigmenwechsel, wie ihn La Chapelle in seinem Beitrag propagiert, sieht der Kommunikationswissenschaftler William Drake von der Universität Zürich in dem neuen Modell nicht. Vielmehr versteht er ihn als einen kritischen Beitrag im Rahmen der bisherigen Internetpoltik. Es gebe abseits der OECD, die sich 2008 für zivilgesellschaftliche Beteiligung bei netzpolitischen Themen öffnete, keine Anzeichen für eine Übernahme des Modells in anderen Insitutionen. So würden die meisten Entscheidungen noch immer ohne Berücksichtigung der verschiedenen Interessengruppen getroffen. Schuld an der geringen Attraktivität des Modells sei im Fall des IGF die interne Uneinigkeit über die Funktion des Forums, bei der ICANN sei vor allem die mangelnde Effizienz der Entscheidungsprozesse dafür verantwortlich. Außerdem beschränkten eine Reihe von internen Faktoren wie ein zu enger Teilnehmerkreis, die mangelnde Beteiligung der Entwicklungsländer sowie eingefahrene Hierarchien innerhalb der Teilnehmer die Arbeit der Gremien.
Fazit
Obwohl nicht alle Beiträge des Magazins gleichermaßen inhaltlichen Mehrwert bieten, da einige lediglich die Argumentation La Chapelles wiederholen, werden die Komplexität des Diskurses und die Interessenlagen der jeweiligen Beteiligten sehr gut deutlich. Damit leistet das MIND-Magazin einen aufschlussreichen Beitrag zur Debatte um die politische Gestaltung des Internet und reflektiert die bisherigen Erfahrungen mit dem Multistakeholder-Modell. Damit könnte das Diskussionspapier auch als Best-Practice-Bericht für eine Überführung des Modells in andere Politikbereiche dienen, beispielsweise zur Lösung der festgefahrenen Verhandlungen über eine weltweites Abkommen zum Klimaschutz. Der Bericht macht aber auch deutlich, dass es weit mehr bedarf als der bloßen Einberufung eines Runden Tisches – vor allzuviel Euphorie sollte also gewarnt sein.