Bei der Parlamentswahl vom 6. März 2011 konnten die Esten bereits zum zweiten Mal nach 2007 ihre Stimme auch online abgeben. Die Beteiligung am diesjährigen E-Voting erreichte gar einen neuen Rekord. politik-digital.de nahm das estnische E-Voting-Verfahren genauer unter die Lupe.
Die Regierungskoalition von Ministerpräsident Ansip erreichte bei der Wahl am Sonntag die Mehrheit der Stimmen. Neben der Offline-Wahl konnten die Esten zwischen dem 24.2. und 2.3.2011 ihre Stimme auch mittels einer ID-Chipkarte per Computer oder über SMS abgeben. Das als I-voting (im Folgenden: E-Voting) bezeichnete elektronische Wahlverfahren erreichte gar einen neuen Beteiligungsrekord. Während bei den Parlamentswahlen von 2007 noch 30.243 gültige Stimmen per Internet abgegeben wurden, waren es in diesem Jahr 140.764 (15,4%) bei insgesamt 913.346 wahlberechtigten Bürgern. Das sind immerhin 24,3 Prozent aller abgegebenen gültigen Stimmen (= 580.264 / (Quelle).
Die Wahlbeteiligung am E-Voting nach Altersstufen bei estnischen Wahlen von 2005-2011 (Quelle: http://vvk.ee/riigikogu-valimised-2011/statistika-2011)
Überraschend: Nur 9 Prozent der Internet- bzw. Handy-Wähler waren jünger als 24 Jahre. Aus Sicht von Manuel Kripp, Managing Director von www.e-voting.cc, hat die Wählergruppe der bis 25-Jährigen womöglich ein Motivationsproblem und schätzt mehrheitlich die Demokratie als etwas Alltägliches ein. Dagegen sei die “alte” Wählerschaft der 25-49-Jährigen die Generation, die den Umbruch erlebt hat und den Wert der Demokratie höher einschätzt. “Grundsätzlich sollte man sich aber vor Augen führen, dass die 25-49-Jährigen häufig die Kompetenz im Umgang mit dem Internet und neuen Technologien besitzen und durch Mobilitätsanforderungen in Job und Familie die Distanzabstimmung einer Präsenzabstimmung vorziehen”, so Kripp.
Im folgenden Video wird der Ablauf des E-Voting in Estland beschrieben:
Erwähnenswert: Sollte sich der Wähler nach Abgabe seiner elektronischen Stimme kurzfristig noch umorientiert haben, konnte er das E-Voting wiederholen. Die alte Stimmabgabe wurde dann einfach rückgängig gemacht. Damit soll vor allem die Möglichkeit der Einflussnahme auf die Entscheidung des Wählers ausgeschlossen werden. Neu war die Option, per SMS zu wählen. Benötigt wurde dafür eine spezielle und kostenlose Sim-Karte (= Mobile ID) unter Verwendung zweier Pins: Die erste Pin diente der Freischaltung der Sim-Karte. Die zweite Pin erlaubte eine digitale Unterschrift durch Anschluss des Mobiltelefons an den PC.
Ihre Stimme können die Esten seit den Kommunalwahlen 2005 elektronisch abgeben. Damit ist das baltische Volk weltweit ein Vorreiter bezüglich rechtsverbindlicher Online-Wahlen auf staatlicher Ebene. Im digitalen Stimmabgabeprozess werden durch den Wähler mittels Kryptografie zwei “digitale Umschläge” erstellt, die im Wahlvorgang getrennt werden, um eine anonyme Stimmabgabe und somit eine “geheime Wahl” zu gewährleisten.
Darstellung des Verschlüsselungssystems bei der Stimmabgabe
(Quelle: PDF-Datei auf der Webseite der Wahlkommission, S. 10)
“Bis dato liegen nur wenige wissenschaftliche Studien zum E-Voting in Estland vor”, meint Dr. Christoph Bieber, Politikwissenschaftler und stellvertretender Vorsitzender von pol-di.net e.V. In diesen Studien erhalte das estnische System jedoch recht gute Bewertungen. Dabei würde eine generelle Funktionssicherheit des Verfahrens konstatiert (siehe: A. H. Trechsel, R. M. Alvarez, T. E. Hall: Internet Voting in Comparative Perspective: The Case of Estonia, 2009, p. 501).
Beim erfolgreichen Einsatz von E-Voting scheint vor allem die Gewährleistung der Sicherheit des Verfahrens die größte Hürde darzustellen. Dabei ist die Frage essentiell, wie sichergestellt werden kann, dass es keinen Missbrauch bzw. keine Wahlfälschung im größeren Stil gibt. Zentral ist u.a. die organisatorische Rollenverteilung auf Seiten der Beteiligten an der Entwicklung, Durchführung und Überwachung eines Wahlsystems. Dazu gehört laut Manuel Kripp auch “die Verteilung der Schlüssel zum Entschlüsseln der Wahlurne auf mehrere Parteien und eine kontinuierliche Überwachung des Wahlprozesses durch unabhängige Auditoren sowie durch nationale, lokale und internationale Wahlbeobachtung.”
Auch die Wählerinformation ist entscheidend: In Estland gehört hierzu z. B. die Veröffentlichung eines Verhaltenskodex und eine Videokampagne über korrektes Verhalten bei der Onlineabstimmung. Überhaupt sind die Esten eine sehr vernetzte Nation, was ein entscheidender Grund dafür sein dürfte, dass sie Vorreiter beim E-Voting sind. So gibt es eine hohe Verbreitung von Internetzugängen und eine enge Verzahnung von E-Government und E-Business-Applikationen. Die Existenz einer digitalen ID-Funktion als digitale ID und die Verbreitung einer nationalen ID-Karte mit Signaturfunktion bilden dabei eine wesentliche Grundlage.
Laut Kripp gibt es “ein breites Angebot an E-Government-Services, die auf die Signaturfunktion der ID-Karte zugreifen. Diese Funktion ist auch in privatwirtschaftliche Beziehungen, wie z.B. Onlinebanking, eingebunden.”
Konsequent werden seit vielen Jahren verschiedene E-Government-Verfahren in Estland umgesetzt. Gute Beispiele dafür sind das Projekt der „papierlosen Regierung“ und die E-Partizipation der Bürger an politischen Entscheidungen. Unter anderem sind Regierung und Ministerien digital miteinander vernetzt (sämtliche Dokumente werden elektronisch ausgetauscht) und stellen offizielle Dokumente wie auch Archive per Internet öffentlich zur Verfügung. Des weiteren haben Bürger über ein Internetportal die Möglichkeit, Gesetze und Richtlinien vorzuschlagen und offiziell an die Regierung zu übersenden, die diese bei einem entsprechenden politischen Willen beschließen kann. Und selbstverständlich stimmen die Abgeordneten des estnischen Parlaments auf elektronischem Wege ab.
Die fortgeschrittene gesamtgesellschaftliche Vernetzung birgt natürlich auch Risiken: Die Verletzlichkeit ihrer digitalen Welt wurde den Esten im Jahre 2007 vor Augen geführt, als es Hackern über einen Zeitraum von zwei Wochen per Denial-of-Service-Attacken (DDoS) gelang, Server der estnischen Regierung sowie von Banken, Medien und Unternehmen lahmzulegen. Von ihrem E-Hype abbringen lassen haben sich die Esten davon jedoch nicht. Davon zeugt auch der bereits erwähnte neue Rekord der elektronischen Stimmabgabe bei Parlamentswahlen.
Könnte das E-Voting in Estland ein Modell für andere Länder sein? Auf EU-Ebene sind die Meinungen geteilt und auch in Deutschland scheint es auf absehbare Zeit kein E-Voting bei Wahlen auf staatlicher Ebene zu geben. Dabei dominieren vor allem verfassungsrechtliche Bedenken. So erklärte das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil vom 3. März 2009 den Einsatz von Wahlcomputern und die Bundeswahlgeräteverordnung bei der Bundestagswahl 2005 für verfassungswidrig.
Beim Einsatz elektronischer Wahlgeräte muss demnach die verfassungsrechtlich gebotene Möglichkeit einer zuverlässigen Richtigkeitskontrolle gesichert sein. Im Klartext: Der Wähler selbst müsse (auch ohne nähere computertechnische Kenntnisse) nachvollziehen können, ob seine abgegebene Stimme als Grundlage für die Auszählung oder – wenn die Stimmen zunächst technisch unterstützt ausgezählt werden – jedenfalls als Grundlage einer späteren Nachzählung unverfälscht erfasst wird. Es reiche nicht aus, ohne die Möglichkeit eigener Einsicht auf die Funktionsfähigkeit des Systems zu vertrauen. Ergo: Die Stimmen dürfen nach der Stimmabgabe nicht ausschließlich auf einem elektronischen Speicher abgelegt werden. Damit wurde einem rechtsverbindlichen E-Voting auf staatlicher Ebene nicht grundsätzlich eine Absage erteilt, dessen Umsetzung aber enorm erschwert.
Doch trotz aller Hürden und Bedenken, die es hierzulande für ein E-Voting auch noch geben mag: Online-Wahlen bzw. ein Mix aus klassischer und elektronischer Stimmabgabe bieten bei richtiger Umsetzung auch Vorteile: So wird z.B. eine ortsunabhängige Wahl erheblich erleichtert. Mögliche Profiteure sind körperlich eingeschränkte bzw. behinderte Menschen und mobile Bürger, die die Distanzabstimmung einer Präsenzabstimmung vorziehen, sowie im Ausland lebende Deutsche. Bei entsprechend ausgereifter und kontrollierter Technik könnte auch der Manipulation und Fehlauszählung (= menschlicher Faktor) bei Wahlen entgegengewirkt und der gesamte Wahlprozess unbürokratischer, unkomplizierter und kostensparender werden. Ob dadurch aber auch die Wahlbeteiligung signifikant gesteigert würde, ist völlig offen. Dafür reicht nicht allein die technische Bereitstellung des E-Voting aus. In anderen Gesellschaftsbereichen gibt es ein rechtsgültiges E-Voting übrigens schon: So wählen die Vereinsmitglieder der Initiative D21 ihren Vorstand seit 2003 auf elektronischem Wege.
In Deutschland scheint der Weg zu einem vergleichbaren E-Voting wie in Estland noch lang zu sein. Das gilt auch für die meisten anderen Länder. Über den Stand des E-Voting auf internationaler Ebene bildet diese Grafik eine gute Übersicht. Der kontinuierliche Zuwachs an Internet-Wählern in Estland seit 2005 stimmt jedoch optimistisch, dass auch andere Staaten auf den Zug des E-Voting aufspringen. Das nächste bedeutungsvolle E-Voting auf staatlicher Ebene gibt es im Herbst 2011 in Norwegen: zwar nur experimentell, aber immerhin!
„Überraschend: Nur 9 Prozent der unter 24-Jährigen beteiligten sich am E-Voting.“
Die im Diagramm dargestellten neun Prozent sind der Anteil an allen E-Voting-Wählern. Wie hoch der E-Voting-Wähleranteil in dieser Altersklasse (18 bis 24) ist, ist der verlinkten Seite der estnischen Wahlkommission gar nicht zu entnehmen.
Bei einer wahrscheinlich sehr niedrigen Wahlbeteiligung in dieser Altersklasse kann der E-Voting-Wähleranteil sogar über dem in den anderen Altersklassen mit einer höheren Wahlbeteiligung liegen.
Lieber Thorsten,
besten Dank für den richtigen Hinweis.
Ich habe das Ganze gerade korrigiert.
Spannend zu sehen ist in jedem Fall, dass das
hochmoderne E-Voting-Verfahren gar nicht so sehr
die vermeintlich so medienaffinen Jung- und
Erstwähler anspricht, sondern gerade bei älteren
Wählern ganz gut angekommen ist (siehe letzte Grafik:
http://vvk.ee/riigikogu-valimised-2011/statistika-2011)
UPDATE:
In der Ausgabe Juli/August 2011 von politik&kommunikation (Titel: “Querdenker”) erschien eben jener Artikel in einer etwas überarbeiteten Variante. Mit Genehmigung von p&k stelle ich diesen nun folgend kostenlos zur Verfügung: http://freidenker.cc/wp-content/uploads/blick-in-die-zukunft.pdf