Ginge es nach der sogenannten Netzgemeinde, säße Joachim Gauck schon im Bundespräsidentensessel. Doch wie weit reichen die Online-Kampagnen für den Wulff-Herausforderer in die politische Realität hinein? politik-digital.de-Vorstand Dr. Christoph Bieber analysiert das Web-Geschehen rund um die Bundespräsidentenwahl.

Wenn am 30. Juni die Bundesversammlung zusammentritt, um einen neuen Bundespräsidenten zu wählen, tut sie dies also im Bewusstsein einer neuartigen Form der öffentlichen Kampagne, die weder von den politischen Parteien noch von den traditionellen Massenmedien getragen wurde. Seit Bekanntgabe der Kandidatur von Joachim Gauck haben sich unabhängig voneinander verschiedene Initiativen gebildet, die mit den Mitteln der Online-Kommunikation mobilisieren und öffentliche Unterstützung erhalten.

 

Joachim Gauck bei Facebook

 

Einfache Seiten, hohe Verbreitung

Zum Einsatz kamen dabei in der Regel recht einfache, unaufwändig produzierte Websites, die jedoch hohe Reichweiten und Sichtbarkeit erzielten. Die „informelle Kampagne“ setzt sich zusammen aus einer gut besuchten Unterstützer-Seite bei Facebook, einer erfolgreichen virtuelle Unterschriftensammlung , einem populären Twitter-Hashtag (#mygauck) und einem daraus geformten Twitter-Mosaik. Darüber hinaus gibt es zahlreiche weitere Aktivitäten, die sich über die verschiedenen Web 2.0-Plattformen zerstreuen. Man kann diese Zutaten als Lerneffekt aus der letztjährigen #Zensursula-Kampagne verstehen – prominente Plattformen und Dienste erzielen respektable Reichweiten im Netz. Das dabei entstehende Material ist medial gut verwertbar, so ist das Fortschreiben der Online-Aktivitäten auch in der Offline-Öffentlichkeit gewährleistet.

Offline wenig los

Das buchstäbliche Heraustragen des Protestes aus dem Netz in Form von „Pro-Gauck“-Demonstrationen funktioniert dagegen (noch) nicht ganz so gut – was wohl am relativ abstrakten Gegenstand liegt: das Finden eines Nachmieters für Horst Köhler berührt die Menschen eben doch nicht so direkt wie staatliche Eingriffe in den Internet-Alltag. Eine über Facebook organisierte Demonstration Pro-Gauck in Berlin brachte statt der bei den Behörden angemeldeten 1000 Sympathisanten lediglich rund 30 auf die Straße. Die angekündigte Sperrung der Straße "Unter den Linden" konnte ausbleiben, die Gruppe machte sich über den Bürgersteig auf den Weg zum Brandenburger Tor.

 

Demos für Gauck

 

Deutlich wird hier, dass es sich bei der Kampagne (auch) um eine Form des Protests gegen den Zugriff der Parteien bei der Besetzung des höchsten Amtes im Staate handelt – viele Bürger kritisieren mit ihrer Unterstützung das „Postengeschacher“ der Parteibürokratien. Die breite öffentliche Unterstützung eines Kandidaten „außerhalb“ der Parteistrukturen verweist auf den Wunsch nach Selbstbeteiligung oder zumindest eine von Parteizwängen befreite Stimmabgabe.

(Noch) Keine Massenbewegung

Der über die verschiedenen Online-Plattformen aufgebaute Druck ist allerdings nicht so groß, wie das nun in einigen Berichten zum Thema zu lesen sein dürfte: die Online-Unterstützung des Kandidaten Gauck ist zwar respektabel, aber mit gut 35.000 Facebook-Freunden und einer virtuellen Unterschriftenliste mit etwa 10.000 Einträgen noch lange keine digitale Massenbewegung.
Allerdings könnte sich der Einfluss aus dem Netz auf die Bundesversammlung noch verstärken – dann jedoch müssten nach dem Muster vor allem US-amerikanischer Online-Kampagnen die stimmberechtigten Mitglieder der Bundesversammlung direkt adressiert werden: durch E-Mails, Tweets, Telefonanrufe oder Fax-Mitteilungen. Die schon vorhandene Kampagnenstruktur böte den geeigneten Rahmen, um Fax-Vordrucke, Textbausteine für Mails und Tweets oder Gesprächsleitfäden für Telefonanrufe zu verfügbar zu machen.

Erst wenn so etwas passieren sollte, gäbe es einen echten „Online-Wahlkampf“ um den Einzug ins Schloss Bellevue.

UPDATE: Es ist etwas passiert! Die unabhängige Nichtregierungsorganisation „Avaaz.org“ bietet auf ihrer Webseite seit dem 24.06.2010, 14 Uhr (kurz nach dem dieser Artikel erschien) die Möglichkeit, Delegierte der Bundesversammlung direkt anzuschreiben. In einem editierbaren Formbrief können die Nutzer dazu auffordern am 30. Juni „im Sinne der Bürger“ zu wählen und „Parteipolitik und Fraktionszwang außer Acht zu lassen“.

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