In ihrer ersten Onlinekampagne fordert die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di ”
Onlinerechte für Beschäftigte“.

Für viele Arbeitnehmer gehören E-Mail und Internet bereits zum beruflichen und privaten Alltag – so auch für
rita2008, Teilnehmerin des virtuellen Interviews auf der

ver.di-Kampagnen-Seite. Zwar gibt es in ihrer Firma kein Verbot zum privaten Surfen am Arbeitsplatz, aber trotzdem wurde ihr aus genau diesem Grund fristlos gekündigt. Die Begründung: Durch das private Surfen würde die Arbeitszeit nicht voll ausgenutzt. Auf der anderen Seite nutzen Beschäftigte das Internet zum illegalen Download von mp3-Dateien, zum Surfen auf Pornoseiten und zum “Moorhuhn”-Spielen und bringen so den Arbeitgeber in Bedrängnis. Bei dem Versuch, sich gegen solchen Missbrauch zu wehren, greifen manche Arbeitnehmer wiederum auf legale und teilweise illegale Überwachungssoftware zurück – Big Brother ist watching you! Der Schaden durch privates Surfen wird laut einer Studie von
Sterling Commerce vom September 2001 auf rund 52 Mrd. Euro geschätzt. Privates Surfen am Arbeitsplatz verursacht ohne Zweifel wirtschaftlichen Schaden für Unternehmen. Ergänzend zu der Studie von Sterling Commerce schätzt das Beratungsunternehmen
IDC den Anteil der Netzwerkbelastung durch „nicht unternehmensrelevante Internet-Aktivitäten“ in vielen Unternehmen auf 30-40 Prozent.

Unsichere Rechtslage

Rechtsverbindliche Regelungen zur privaten Nutzung des Internets in Betrieben und zur elektronischen Überwachung des Online-Verhaltens von Arbeitnehmern existieren bisher kaum. Manche Einzelurteile der Arbeitsgerichte widersprechen sich sogar in ihrem Urteil. Mit ihrer ersten Online-Kampagne möchte die Dienstleistungsgesellschaft ver.di diesem Sachverhalt Rechnung tragen und setzt sich für eine verbindliche rechtliche Regelung dieser Probleme über ein Arbeitnehmerdatenschutzgesetz oder betriebliche Vereinbarungen ein. Michael Sommer, zu Beginn der Kampagne stellvertretender Vorsitzender von ver.di und mittlerweile DGB Vorsitzender, stellt jedoch im von politik-digital.de durchgeführten
ver.di-Chat klar: “Wir reden nicht dem Missbrauch des Internet das Wort”. Stattdessen setzt sich ver.di für klare Absprachen zwischen den Tarifpartnern ein, um die große Unsicherheit vieler Arbeitnehmer hinsichtlich privater Nutzung des Internet zu beseitigen, zumal die Grenzen zwischen privater und betrieblicher Nutzung des Internet häufig fließend sind. Ziel der Kampagne ist es außerdem, in einem “klaren Arbeitsnehmerdatenschutzgesetz” (Sommer) den Einsatz von Überwachungssoftware zu regeln. Sommer ist überzeugt, “dass in weiten Bereichen illegale Überwachungssoftware im Einsatz ist, was den meisten Arbeitnehmern nicht bekannt ist.” Zwar dürfe das Internet nicht für illegale Nutzung am Arbeitsplatz missbraucht werden, etwa um Beleidigungen, Geschäftsgeheimnisse oder sensible Unternehmensdaten zu verschicken, aber für ver.di ist die permanente Überwachung der Beschäftigten – auch vor dem Hintergrund der grundgesetlich garantierten Privatsphäre – “keineswegs akzeptabel”. Statt dessen stellt sich die Gewerkschaft bei “begründeten Verdachtsfällen (…) Missbrauchskontrollen nach klaren, transparenten Regeln und unter Beteiligung des Betriebsrats” vor.


“Ein Prozess von Geben und Nehmen”

Hört sich kompliziert an? In der Tat herrscht bei manchen Nutzern der Kampagnenseite Verwirrung. Im
ver.di Chat mit Michael Sommer fragt “ernst”: “Für mich klingt das ein bisschen schwammig, möchten Sie nun, dass ich meiner Freundin eine Mail am Arbeitsplatz schreiben kann, oder nicht?” Die Antwort bleibt freilich ebenfalls schwammig: “Wenn es nicht Ihre Haupttätigkeit ist: Aber natürlich!” Hier liegt in der Tat der Knackpunkt der Kampagne: Eine rechtliche Regelung der privaten Nutzung des Internets am Arbeitsplatz müsste den Spagat zwischen eindeutigen und dennoch flexiblen Regelungen schaffen. ver.di setzt dabei auf die Tarifpartner und eine verbindliche Regelung zur privaten Nutzung des Internets auf Betriebsebene, wie es auch beim Gebrauch des Telefons gehandhabt wird. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (
BDA) erklärt in einer
Stellungnahme für politik-digital.de vom 18. Juni 2002, dass die Arbeitgeber ebenfalls der Meinung sind, dass “bereits existierende Vereinbarungen – z.B. zum privaten Telefonieren – als Modell dienen” könnten.

In “einem Prozess von Geben und Nehmen” (Sommer) soll den Arbeitnehmern die Nutzung des Internets am Arbeitsplatz für nicht ausschließlich betriebliche Zwecke ermöglicht werden. ver.di erkennt dabei auch die Probleme der Netzwerkgesellschaft und -ökonomie, die unter den Bedingungen der Individualisierung und der “Ich-AG” eine “Patentlösung” für die Nutzung von Online-Medien in allen Betrieben unmöglich macht. Und so versucht ver.di auch nicht, kollektive Lösungen zu bieten. Die Betonung der individuellen Situation des jeweiligen Unternehmens, auf die Regelungen zur Online-Nutzung bezogen sein müssten, zieht sich durch die gesamte Kampagne. Gleichzeitig sollen die Arbeitnehmer durch ein Arbeitnehmerdatenschutzgesetz vor ungerechtfertigter Überwachung geschützt werden. Hier widerspricht die BDA in ihrer
Stellungnahme der ver.di Position: “Die Notwendigkeit für ein Arbeitnehmerdatenschutzgesetz besteht aus Sicht der Arbeitgeber nicht. Die vorhandenen Gesetze zum Datenschutz sind ausreichend.”

Streitpunkt private Nutzung

Ein weiterer Streitpunkt ist die Ermöglichung der privaten Nutzung des Internets. “Die Forderung von verdi, allen Beschäftigten eine Option zur privaten Nutzung des Internets ermöglichen zu wollen, unterstützen die Arbeitgeber nicht. Einen allgemeinen Anspruch für Arbeitnehmer auf Privatnutzung des Internets am Arbeitsplatz oder auf Einrichtung eines Internetanschlusses darf es ebenfalls nicht geben, heißt es in der
BDA Stellungnahme. In der
ver.di Antwort für politik-digital.de auf diese Stellungnahme des BDA vom 3. Juli 2002 verneint die Gewerkschaft die Absicht einer solchen generellen Forderung. Vielmehr fordert ver.di, “dass die Beschäftigten, deren Arbeitsplatz bereits über einen Zugang zu Internet und E-Mailsystemen verfügt, diesen in geregeltem Umfang auch privat nutzen dürfen”. Hier zeigt sich die Tücke im Detail, zwischen allgemeinem Anspruch und der Lösung im Kleinen, die nach
Expertenmeinung durch die unsichere Rechtslage hervorgerufen wird.

Ein anderer Aspekt der privaten Nutzung des Internets ist ebenfalls umstritten. Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di fordert in ihrer Stellungnahme, “dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über Intra-, Internet und E-Mailsystemen Kontakt zu ihrem Betriebsrat und ihrer Gewerkschaft aufnehmen können und umgekehrt. Nach unserer Erfahrung hat in vielen Betrieben die Interessenvertretung der Beschäftigten keinen Zugang zum Intranet oder eine eigene Homepage. In der Vergangenheit gab es sogar den konkreten Fall, dass Beschäftigten der Zugang zur Internetplattform ihres Betriebsrates gesperrt wurde und diesem der Zugang zu seiner Gewerkschaft.” Die Standpunkt der Arbeitergeber ist eindeutig. In einer
zweiten Stellungnahme vom 4. Juli 2002 stellt der BDA fest: “Das Internet hat sich in einigen Bereichen zu einem wichtigen Arbeitsinstrument entwickelt. In vielen anderen Arbeitsbereichen spielt es gar keine oder kaum eine Rolle. Die Forderung, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über Intra-, Internet oder Email-Systemen Kontakt zu Ihrer Gewerkschaft aufnehmen können, lehnt die BDA ab. Dort, wo bereits durch andere Kommunikationswege die Kommunikation zu betrieblichen Mitarbeitervertretungen möglich ist, ist die Forderung von ver.di nach Internetzugang für alle Beschäftigten nicht nachvollziehbar und deshalb abzulehnen.” Die Antwort von ver.di kam prompt: “Die Ablehnung der BDA, Beschäftigten einen Zugang zur Gewerkschaft über die im Betrieb genutzten elektronischen Kommunikationsmittel wie Internet, Intranet oder E-Mail zu gewähren, stößt bei ver.di auf Unverständnis. Schon in Hinblick auf den hohen Stellenwert von Art. 9 Abs. 3 GG – Koalitionsrecht der Gewerkschaften – ist der Arbeitgeber aus verfassungsrechtlichen Erwägungen daran gehindert, den Zugriff auf gewerkschaftliche Informationsangebote einzuschränken”, heißt es in der
zweiten Stellungnahme von ver.di.

Der Fortlauf der Kampagne wird zeigen, ob es möglich sein wird, die unterschiedlichen Standpunkte auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Die Gesprächsbereitschaft ist da, wie die Stellungnahmen der beiden Organisationen zeigen. Spannend ist auch die Frage, wie die Politik reagieren wird. Besonders vor dem Hintergrund der anstehenden Bundestagswahlen.

Kampagnenelemente

Kern-Tool der Kampagnenseite ist eine Unterschriftenliste, in die sich seit März circa 500 Unterstützer eingetragen haben. Sommer: “Wir sind ganz zufrieden mit der Resonanz.” Bis zu den Bundestagswahlen soll die Kampagne vorerst laufen und der damalige ver.di-Vize Sommer verspricht geheimnisvoll “spektakulärere Geschichten”, wenn die Unterschriftenliste alleine nicht die gewünschte Wirkung erzielt. Für die Realisierung der Kampagnenseite zeichnet sich die Berliner Medienagentur ”
wegewerk” verantwortlich. “Wir waren uns mit unserem Auftraggeber von Beginn an darüber im Klaren, dieses Online-Thema vor allem durch die Nutzung der interaktiven Möglichkeiten der E-Kommunikation zu artikulieren”, so Juri Maier, Geschäftsführer bei wegewerk. Ein innovatives Entwickler-Team sorgt dafür, dass diese interaktiven Möglichkeiten auch ausgeschöpft werden. Neben der virtuellen Unterschriftenliste informiert ein Newsletter über den Verlauf der Kampagne und die Nutzer können in einem Forum Erfahrungen austauschen und diskutieren. Zudem entwickelte wegwerk ein
“virtuelles Interview”, bei dem die User bis zu einem bestimmten Stichtag Fragen an einen Experten stellen, und die Fragen der anderen Nutzer bewerten können. Nach Ablauf des Stichtages werden die zehn am höchsten bewerteten Fragen beantwortet. Das am 30.6. 2002 durchgeführte Interview zum Thema “Überwachungssoftware” ist ebenso wie ein Interview mit dem Arbeitsrechtsexperten
Prof. Dr. Wedde online auf der Kampagnenseite zum nachlesen bereitgestellt. Online-Umfragen und umfangreiche Download-Möglichkeiten runden das Angebot ab. Bis zum Herbst wollen die Campaigner bei ver.di noch Unterschriften sammeln und die Liste noch vor der Bundestagswahl an den Bundesarbeitsminister Riester überreichen. In der nächsten Legislaturperiode soll dann nach dem Willen der Gewerkschaft das längst überfällige Arbeitnehmerdatenschutzgesetz verabschiedet werden – und Menschen wie “rita2008” damit mehr Sicherheit beim Umgang mit dem Internet am Arbeitslatz gegeben werden.

Erschienen am 04.07.2002