Enzyklopädie_bearbAus Netz- wird Digitalisierungspolitik und aus Vorratsdatenspeicherung Mindestspeicherfrist: Die CDU bringt erneut einen unverbrauchten Begriff für ein altes Thema in die Debatte. Ist das ein Versuch, das Feld der Netzpolitik nach eigenen Vorstellungen neu zu definieren, um Deutungshoheit zu erlangen? Oder werden einfach rechtzeitig zur neuen Legislaturperiode ausgediente und schwammige Begriffe durch adäquate Bezeichnungen ersetzt?
Netzpolitik ist das Thema, mit dem die Piraten sich als Partei zu profilieren schienen. Netzpolitik ist der Begriff, der für Wirbel in der etablierten Welt der politischen Fachressorts sorgte und auch den Rahmen für eine neue Bürgerrechtsbewegung bot. Im Wahlkampf wurde es jedoch auffällig ruhig um ihn. Die Lücke, welche die Nicht-Beachtung netzpolitischer Themen von Seiten der Regierung hinterließ, konnten oder wollten die Oppositionsparteien offenbar nicht füllen. Zur Vorbereitung auf die Koalitionsverhandlungen erstellte jedoch ein Arbeitskreis der CDU ein Positionspapier zur „Digitalisierungspolitik“. Der Begriff „Netzpolitik“ findet darin keine Erwähnung. Zudem werden in den nun laufenden Koalitionsverhandlungen netzpolitische Themen im Kulturausschuss, Unterarbeitsgruppe „Digitale Agenda“, behandelt. Hat diese begriffliche Umwidmung eine Bedeutung? Ist das Ausweichen auf den Begriff des „Digitalen“ als eine bewusste Umgehung politisch aufgeladener Begriffe zu verstehen? Bedeutet dies eine Fortsetzung der politischen Nicht-Beachtung? Oder wurde vielmehr eine neue und weitaus passendere Bezeichnung gefunden? Und das Thema in einer eigenen Arbeitsgruppe aufgewertet? Schließlich war Netzpolitik noch vor vier Jahren lediglich auf der Agenda in den Arbeitsgruppen „Familie/Integration/Kultur/Neue Medien“ sowie „Innen/Justiz/Informationsgesellschaft“.

Netzpolitik – Ein Begriff schwammiger Vielfalt

Der Begriff Netzpolitik ist schwer definierbar und wird unterschiedlich verwendet. Bei schneller Google-Suche inklusive Filter Bubble taucht der Begriff zum ersten Mal 1996/7 in Beiträgen der Soziologen Rainer Rilling und Hans Krysmanski auf. Keiner der Autoren bietet allerdings eine Definition, und eine solche ist bis heute schwer auffindbar. Allerdings wird bei beiden die Vielschichtigkeit bzw. Uneindeutigkeit des Konzepts von Netzpolitik bereits beispielhaft deutlich. Die verschiedenen Bedeutungen, die der Begriff auch in seinen aktuellen Verwendungen umfasst, versuchen wir hier aufzuschlüsseln.
Sowohl Rilling als auch Krysmanski diskutieren die Möglichkeit, politische Prozesse durch Informationstechnik, im Besonderen durch das Internet, zu verändern. Rilling nennt diesen Aspekt der Netzpolitik „Cyberdemokratie“: Netzpolitik als Politik durch das Netz. Um diese umsetzen zu können, bedarf es einer gewissen Infrastruktur, deren Wartung und gegebenenfalls Regulierung: Das ist Netzpolitik als Politik des Netzes, der Netzinfrastruktur. Ein dritter Aspekt des Begriffs ist der querschnittsthematische Prozess der Vernetzung, da die informationstechnische Vernetzung Folgen für fast alle gesellschaftlichen Bereiche hat. So schwärmt Krysmanski von einer vernetzten „fundamentaldemokratischen globalen Wissenschaftlergemeinschaft“: Netzpolitik als Querschnittsthema zu den Folgen der Vernetzung.
Viertens beinhaltet Netzpolitik, im Gegensatz zu anderen Politikbereichen wie Innen- oder Wirtschaftspolitik, für viele Akteure bereits eine politische Agenda per se. Dementsprechend leitet Rilling Offenheit und Transparenz direkt aus einer „Logik des Netzes“ ab. Netzpolitisch ist dann nur die Forderung nach Netzneutralität oder bedingungsloser Transparenz, während deren Ablehnung gegen dieses Verständnis von Netzpolitik verstößt: Netzpolitik als Agenda. Diese Vermischung von Agenda und Gegenstand kritisiert der Publizist Evgeny Morozov als „Solutionismus“, nämlich das Internet als universelle Lösung, wonach ihm inhärente Charaktermerkmale wie Offenheit und Transparenz zugeschrieben werden. Der Begriff Netzpolitik vereint so bis heute zumindest drei verschiedene Politikaspekte und eine politische Agenda.
Vor dem Hintergrund der aktuellen Koalitionsverhandlungen läuft nun die Debatte, wie Netzpolitik institutionell in der nächsten Legislaturperiode in Regierung und Bundestag verankert werden soll. Daher erscheint eine (Neu-)Definition des Politikfeldes ein sinnvoller Schachzug.

Das Auftreten der Digitalisierungspolitik

In diesem Zusammenhang wirkt der Vorstoß der CDU, „Netzpolitik“ durch den Begriff „Digitalisierungspolitik“ zu ersetzen, wie ein Versuch, das Feld anders zu definieren. Die CDU-Netzpolitiker Peter Tauber und Thomas Jarzombek sehen darin auf Nachfrage von politik-digital.de jedoch keine inhaltliche Veränderung oder politische Motivation. Während Jarzombek auf eine „Anpassung an Begrifflichkeiten der Europäischen Union“ hinweist, verweist Tauber auf den Publizisten Christoph Kappes als Urheber. Kappes selbst jedoch sieht in einem Blog-Post aus dem Jahr 2011 einen Unterschied zwischen den Begriffen, der für ihn offenbar groß genug ist, um für einen Wechsel zu plädieren. In diesem Beitrag spricht Kappes sich für die Bezeichnung Digitalisierungspolitik aus, da Netzpolitik den Blick zu sehr auf die Vernetzung konzentriere. Für ihn ist die Digitalisierung, also die Überführung von Informationen in diskrete, standardisierte Größen, mit dem Ziel, sie elektronisch verarbeiten zu können, der Kern der „Umwälzung“ der heutigen Gesellschaft. Vernetzung sei dabei nur ein Teil des Prozesses. Informationen müssen erst geschaffen werden, bevor sie verbreitet werden können. Netzpolitik bezeichnet für Kappes nur einen Teilbereich, nämlich das Internet als Regelungsgegenstand, die Netzinfrastruktur.
Kappes‘ Argumente zielen auf die Kernfrage, ob Vernetzung oder Digitalisierung den wesentlichen Wandel darstellen. Sicherlich ist Digitalisierung eine Voraussetzung für die Vernetzung der Gesellschaft mithilfe von Informationstechnologien. Doch wie groß ist das Veränderungspotenzial von vereinzelten programmierbaren Maschinen, also Computern? Ist nicht die Vernetzung ursächlich für den politischen Handlungsbedarf in Breitbandausbau, Urheberrecht, Netzneutralität, Datenschutz und auch IT-Wirtschaft? Friedrich Krotz, Professor für Kommunikationswissenschaft, vertritt diese Gegenposition zu Kappes. Für ihn erscheint unvernetzte Digitalisierung schlicht „belanglos“.

Umetikettierung mit System

Fern von solchen abstrakten Diskursen sieht die Opposition durchaus eine politische und nicht nur akademische Motivation hinter der neuen Begriffswahl. Für Malte Spitz, Bundesvorstand von Bündnis 90/Die Grünen, findet eine bewusste Neuverortung des Themas statt. „Die Umetikettierung hat System“, schreibt Spitz und nennt die Beispiele „neue Datenpolitik“ anstelle von „Datenschutz“ sowie „Mindestspeicherfrist“ statt „Vorratsdatenspeicherung“. Auch die Piratenpartei warnt vor Orwellschem Neusprech. „Digitalisierungspolitik“ könnte in diesem Sinne als Rahmen für eine konservative Netzpolitik dienen, die sich politisch aufgeladener Begriffe entledigt. Dies könnte nicht nur hilfreich sein, um von einem „links“ aufgeladenen „Etikett“ wegzukommen, wie es der SPD-Politiker Jan Mönikes vermutet, sondern darüber hinaus sollten auf diese Weise „Gefahren versteckt“ und „Protest erschwert“ werden, befürchtet Spitz.

Von Begriffen zur institutionellen Verankerung

Doch wie auch immer die Diskussion ausgeht, es kommt nun zunächst darauf an, Netz- oder Digitalisierungspolitik in einer neuen Regierung und im Bundestag institutionell zu verankern. Da es unumstritten ein Querschnittsthema ist, stehen die Koalitionäre vor der Herausforderung, das Thema sowohl dezentral in alle Gremien einzubringen, als auch ein zentrales Organ zu bilden, das durchsetzungsfähig und kompetent ist. So gibt es laut Thomas Jarzombek den Vorschlag, überall „Digitalisierungsbeauftrage“ einzusetzen, welche dann in Treffen „gemeinsame Strategien“ entwickeln. Doch welches Gewicht würden solche „Beauftragten“ haben?
Digitalisierung als prozessbezogener und sehr allgemeiner Begriff kann das Bild eines eher schwachen, dezentralen Politikfelds vermitteln. Wohingegen Netzpolitik bereits mit konkreten Themen und politischen Debatten assoziiert ist, aber das Themenfeld im Verständnis einiger auf den Aspekt der Infrastruktur reduziert. Es bleibt, die Koalitionsverhandlungen und die nächste Legislaturperiode vor diesem Hintergrund auch semantisch genau zu beobachten. Denn Sprache ist auch Ausdruck von Macht und Widerstand. Bisher lag die Deutungshoheit meist bei der netzpolitischen Zivilgesellschaft.
 
Bild: Thomas Kohler (CC BY-SA 2.0)
Buch-Cover von Marina Weisband
 

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