Am 12. März 2004 gingen unglaubliche Bilder aus dem koreanischen Parlament durch die Welt– heulende Abgeordnete, die von den Kollegen geschlagen und von Bodyguards hinausgetragen wurden und ein Präsident, der vom Parlament seines Amtes enthoben wurde. In der internationalen Presse war von der schwersten Krise seit der Demokratisierung 1987 die Rede. Was war nur los in Korea? Sollte diese junge Demokratie ernsthaft gefährdet sein?
Die koreanische Demokratie war aber nicht gefährdet – und ist auch heute nicht. Die Bürger reagierten nämlich sofort. Über das Internet riefen sie unmittelbar nach der Amtsenthebung des Präsidenten zu Demonstrationen auf. Die Aufrufe kamen nicht von politischen Organisationen, sondern von den Netizen (aus „InterNet Citizen“ gebildet) selbst. Noch am Tag der Amtsenthebung kam es vor dem Parlament zu einer großen Demonstration mit über 50000 Teilnehmern. U.a. riefen sie in Sprechchören: “Wir werden unsere Demokratie, die wir erkämpft haben, mit allen Mitteln verteidigen und schützen.“
Hingegen jubilierten die großen Tageszeitungen Koreas
Choson Ilbo,
Jungang Ilbo und
Donga Ilbo über die Amtsenthebung. Schon während des Präsidentschaftswahlkampfes 2002 hatten sie wild gegen
Roh Moo Hyun angeschrieben und zeigten sich auch nach seinem Sieg ihm gegenüber äußerst feindselig.
Die internationale Berichterstattung, die sich meist auf die englischsprachigen Ausgaben von Chosun Ilbo und Donga Ilbo stützte, hatte es deshalb schwer, die gründliche Umwälzung der politischen Kultur in Korea seit 2002 zu begreifen. Umso leichter fiel es ihr, von der größten Krise der koreanischen Politik zu berichten.
Tatsächlich jedoch ist man in Korea dank der großen Verbreitung und des aktiven Einsatzes des Internets gerade dabei, den Prozess der Entwicklung zu einer transparenteren und sauberen Politik zu durchleben. So zeigen diese Vorgänge, dass die Netizen zu einem entscheidenden Faktor in der koreanischen Politik geworden sind. Die Mobilisierung der Netizen erfolgte in drei Phasen.
Die Ouvertüre: Parlamentswahlen 2000
Die erste Phase bildeten die Vorgänge um die Parlamentswahl 2000. Sie war sozusagen die Ouvertüre des neuen Zeitalters von e-politics. Damals, im Januar 2000, stellte ein Dachverband progressiver Bürgerorganisationen („Chongseonsimin yeondae“) eine schwarze Liste von Kandidaten ins Internet, die sich nach deren Auffassung alle möglichen Verfehlungen hatten zuschulde kommen lassen und deshalb nicht gewählt werden sollten. Mit dieser schwarzen Liste wurden der Öffentlichkeit auch Informationen über die dunklen Machenschaften, die Korruption, den Opportunismus, die Inkompetenz etc. dieser Kandidaten bekannt gegeben. Diese Kandidatenliste war so gefragt, dass der Server des Dachverbandes zeitweise zusammenbrach. Von 86 Kandidaten auf dieser Liste fielen 59 bei der Wahl im April 2000 durch. Das politische Potential des Internets war zum ersten Mal deutlich hervorgetreten.
Die zweite Phase der Entwicklung von e-politics in Korea bildete die Präsidentschaftswahl 2002.
Mobilisierung über das Internet
Zu Beginn des Jahres erregte die spontane Aktivität koreanischer Netizen, die angesichts der nach ihrer Meinung ungerechten Disqualifizierung des koreanischen Shorttrackläufers während der Winterolympiade einen Cyberprotest organisierten, weltweite Aufmerksamkeit. Im Juni tauchten die „Roten Dämonen“, die sich über das Internet als Supporter der koreanischen Fußball-Nationalmannschaft organisiert hatten, überall in Korea die Strassen in Rot und vereinnahmten dabei den großen Platz vor dem Seouler Rathaus als „Platz der Bürger“.
Der Idee eines Netizen im Internet folgend wird dieser Platz zwischen November und Dezember 2002 alle paar Tage in ein Kerzenmeer verwandelt. Damit will man nicht nur die Trauer über den Tod von zwei jungen, am 13. Juni getöteten Schulmädchen, sondern auch den Protest, ja die Wut über die USA, die die Verantwortung für den Tod der beiden bestreiten, und gegen den Freispruch der beiden amerikanischen Soldaten vor einem amerikanischen Militärtribunal zum Ausdruck bringen. Vorausgegangen war die kontinuierliche Berichterstattung über diesen Vorfall im Internet und eine sehr lebhafte Online-Diskussion darüber. Hingegen berichteten die großen Tageszeitungen kaum über diesen Vorfall selbst und die Reaktionen in der Öffentlichkeit und im Internet. Erst im November, als die beiden Soldaten, die den Tod verschuldet hatten, von einem amerikanischen Militärgericht freigesprochen wurden, schrieben die dominierenden Printmedien darüber und forderten jetzt wie viele Stimmen im Internet, eine Veränderung des Vertrags über den Status der in Korea stationierten amerikanischen Soldaten (
Status of Force Agreement – SOFA). Zu diesem Zeitpunkt hatte sich in der Online-Diskussion bereits ein Konsens gebildet, auf dem Platz vor dem Seouler Rathaus und überall in den großen Städten des Landes gegen die USA mit Kerzen zu demonstrieren.
Präsidentschaftswahlen 2002: Machtkampf zwischen Printmedien und Internet
Die großen Tageszeitungen in Korea neigen tatsächlich dazu, die öffentliche Meinung als ein Objekt zu betrachten, das sie entsprechend ihrer konservativen Präferenzen kontrollieren bzw. manipulieren können. Dies trat während des Präsidentschaftswahlkampfes 2002, als sie allesamt Roh Moo Hyun als gefährlichen Politiker darstellten, noch einmal deutlich zutage. Ihre Berichterstattung und ihre Meinungsartikel ergriffen ganz eindeutig Partei für Lee Hoe Chang, den Kandidaten der Oppositionspartei. Bis dahin hatte es in Korea noch keinen Politiker gegeben, der gegen diese großen Tageszeitung gewonnen hatte (Sisa Journal 3.1.2002). Dennoch konnte Roh Moo Hyun die Wahl gewinnen, und zwar dank der massiven Unterstützung der Netizen.
Insofern entsprach der Präsidentschaftswahlkampf 2002 einem Machtkampf zwischen den wichtigsten Printmedien und dem Internet. Versuchten die konservativen Tageszeitungen wie immer kurz vor der Wahl die kommunistischen Ängste der Bevölkerung zu schüren, u.a. indem sie mit ganz übergroßen Schlagzeilen (die größten seit dem
11. September 2001) auf die Bedrohung durch nordkoreanische Kernwaffen- und Raketen verwiesen, wurden diese Manipulationsversuche in Internetzeitungen wie „Oh my news“, „Presian“ oder „Daezabo“ umgehend entlarvt. Als Opposition und Tageszeitungen versuchten, Roh Moo Hyun mit einem aus dem Kontext genommenen Satz zu schädigen, wurde sogleich auf mehreren Internetseiten der Volltext seiner Rede wiedergegeben.
Als die Tageszeitungen die Internetzeitungen als undemokratisch und vulgär kritisierten, reagierten sie sofort. Noch am gleichen Tag war in der „NGO Times“ zu lesen: „Weil die traditionellen Medien und vor allem die von einigen Familien dominierten konservativen Zeitungen durch ihre selektive und manipulierte Berichterstattung seit Jahren versuchen, die wichtigsten Probleme des Landes wie die Arbeiter- und Bauernfrage zu ignorieren und eine antinationale, proamerikanische Unterwürfigkeit in unserer Gesellschaft zu verbreiten, sind die Internetzeitungen als alternatives Medium entstanden, um eine Reform der Medien insgesamt zu bewirken.“
Die Wahlanalytiker in Korea sind sich einig, dass die Internetmedien bei der Präsidentschaftswahl 2002 eine große Rolle gespielt haben, hauptsächlich weil sie die Widersprüche in der Darstellung der größten Tageszeitungen und ihre Manipulationsversuche entlarvten und in ihnen die Wünsche der Netizen reflektiert und offen diskutiert wurden.
Dies war aber nur deshalb möglich, weil die Wahlentscheidung vieler Bürger mittlerweile auf Informationen aus dem Internet beruhten. In diesem Sinne war die Präsidentschaftswahl 2002 eine Niederlage der großen Tageszeitungen und ein Sieg des Internets als ein politisches, öffentlichkeitswirksames Medium.
Ohne die technische Infrastruktur wäre allerdings ein solcher politischen Wandel nicht denkbar gewesen. Nach einer Untersuchung des
Information Center for the Korean Internet verfügten im Juni 2002 ca. 70% der koreanischen Haushalte über einen Internetzugang. Die Zahl der Internetbenutzer belief sich auf 25,6 Millionen (von einer Gesamtbevölkerung von 45 Millionen), von denen 62,2% das Internet täglich durchschnittlich zwischen zwei und drei Stunden benutzten (Sisa Journal, 3.1.2003).
Frühjahr 2004: e-politics erreicht neue Dimension
Die dritte Phase begann schließlich mit dem Amtsenthebungsverfahren im März 2004. Mit der Protestbewegung auf der Straße und im Internet selbst erreichte e-politics in Korea eine neue Dimension. Diesmal standen nämlich unzählige e-communities, also sog. „Cafés“ im Internet, in denen sich Netizen zusammenfanden, im Mittelpunkt der Protestbewegung. Allein auf der Portalsite Daum wurden im März 2004 mehr als 100 „Cafés “, die sich gegen die Amtsenthebung stellten, gezählt.
Eines der größten „Cafés“ dieser Art trägt den Namen „gukmin eul hyeonbak haji malla“ (Bedrohe das Volk nicht) auf der Portalsite
daum.net. Ein Student aus Busan, einer Hafenstadt im Süden des Landes, hatte dieses Café am 6. März 2004, als Reaktion auf die ständigen Drohungen der Oppositionsparteien, Präsident Noh Moo Hyun seines Amtes zu entheben, eröffnet. Innerhalb von zwei Wochen zählte dieses „Café“ über 95000 Mitglieder.
Am 22. März waren bereits 156.000 Eintragungen in seinem BBS zu finden; pro Tag wurden mehr als 3 Millionen Besucher gezählt. Kein anderes Café hat sich so schnell entwickelt.
Eine Besonderheit der Netizen-Aktivitäten im März 2004 war die Abwesenheit von federführenden politischen Organisationen. D.h. die Netizen fanden ohne einen organisatorischen Überbau zusammen. Sie mobilisierten sich vielmehr selbst – online versteht sich. Dabei machen sie klar, warum und wofür sie protestieren, nämlich die 1987 eingeleitete Demokratisierung zu vervollständigen.
Die erst im November 2003 gegründete Partei Uridang verdankte ihren Sieg bei der Parlamentswahl im April 2004 dieser Netizen-Power. Deshalb versuchen jetzt alle politische Parteien, Netizen für sich zu gewinnen, und die Verwandlung in eine „e-party“ hinzubekommen. Mittlerweile ist es selbstverständlich geworden, dass Politiker ihre Positionen zu aktuellen politischen Entscheidungen zunächst auf der eigenen Homepage bekannt machen.
Netizen: entscheidender Faktor in der Politik Koreas
So sind die Netizen in Korea zu einem entscheidenden Faktor in der Politik geworden. Man sagt sogar, on-line beherrsche off-line. Die Besonderheit der koreanischen e-politics ist die starke Reziprozität des Informations- und Meinungsaustausches. Dabei spielen die Bulletin Boards (BBS), etwa in der Form der erwähnten Cafés, eine zentrale Rolle. Die Einträge von Netizen können Hunderte von Reaktionen auslösen. Auch zwischen BBS lässt sich ein reger Austausch beobachten. Die kommunikativen Netze sind auf diese Weise weitgespannt und werden sehr intensive genutzt.
Es wäre sicher falsch, hier zu behaupten, dass das Internet als solches die Demokratie in Korea gefördert hat. Aber das Internet war ohne Zweifel das entscheidende Hilfsmittel, um die einseitige Begünstigung des konservativen Lager durch die von wenigen Familien dominierten Zeitungen zu durchbrechen. Die einseitige Präferenz dieser Printmedien war eine großes Hindernis für die Demokratisierung der koreanischen Politik nach 1987. Unter den gegenwärtigen Gegebenheiten in Korea gewährleistet das Internet die Offenheit der politischen Meinungsbildung und spielt damit die von Dick Morris postulierte Rolle einer fünften Gewalt im Staat.
Dr. Eun-Jeung Lee unterichtet zur Zeit Politikwisschenschaft an der Universität Halle