Im Internet bilden sich viele Privatseiten gegen die Regierung. Nicht nur Medienhype, sondern auch politisches Engagement kennzeichnet die Kampagnen. Wir sind das Volk jetzt auch im Netz?


B
estandsaufnahme

Über „die da Oben“ zu schimpfen ist en Vogue in diesen Tagen. Und zwar in jeglicher medialer Form. Entfachen die alten Medien diesen Unmut über die derzeitige Regierung gerne mit möglichst erschreckenden Überschriften oder greifen einige Privat-Aktionen auf und verwerten sie publikumsgerecht, so bilden sich im Internet von Privatleuten selbst gebaute Seiten. Der Stern spricht generell von der „Rache der Wähler“. Im Internet gibt es Anti-Kanzler und Anti-Regierungsseiten in Hülle und Fülle. Es werden per Umfragen
Neuwahlen eingefordert oder der Bundeskanzler nebst Finanzminister gleich bei der Staatsanwaltschaft München
verklagt. Nicht jede Seite ist ernst gemeint, oft sind es reine
Spaßaktionen. Wenn Bundespräsident Rau sich nun wundert, dass Schröder im Einzelnen und Politiker im Allgemeinen so stark angegriffen werden und es mit „Verächtlichmachung“ (Stern) benennt, dann ist das kurzsichtig. Denn laut dem Kanzler selber, habe nicht die SPD die Wahl für ihn gewonnen, sondern er die Wahl für die SPD. Und damit ist er die Hauptprojektionsfigur für den Unmut einiger Teile der Bevölkerung.

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emden für den Kanzler

Am bekanntesten, d.h. am mediengerechtesten, ist Christians Steins
Hemden-Aktion . Sie sorgt schon seit einiger Zeit für ein Rauschen im Blätterwald. „Und sie geht weiter und weiter und weiter“, sagt jedenfalls der Initiator auf seiner Seite.

Verwirrung gab es, als sich die Junge Union (JU) Hessen auch zur Urheberschaft dieser Kampagne ernannte, da sie ihre
Domain schon einen Tag früher angemeldet habe. Stein spricht von Abkupfern: Doch auf der JU-Seite findet man es nun „toll, wenn Privatpersonen solche Initiative zeigen, um das Versagen der momentanen Bundesregierung deutlich zu machen.“ Nun ist alles gut. Stein und die JU Hessen arbeiten zusammen und haben ihre Angebote untereinander verlinkt. Probleme gab es wiederum, als der Text, den Stein für den Begleittext des Hemdes vorgibt, von den „
Jungen Konservativen“ quasi identisch übernommen wurde. Diese weisen auf ihrer Seite Stein als Urheber aus, der sich aber auf Nachfrage von N-TV von ihnen distanzierte. Laut Stein sind auch weiterführende Aktionen geplant, wie „z.B. eine persönliche Übergabe gesammelter Hemden in Berlin“. Stein plant Motto T-Shirts („Ich trage dieses T-Shirt, weil Schröder mein letztes Hemd hat“) für 9 Euro zu verkaufen. 1 Euro Pro Hemd soll gespendet werden. Allerdings sind sich Stein und sein Team noch nicht einig an wen.

Auch die Bildzeitung springt jetzt auf den Zug: es werden sich bald Semiprominente Damen ihrer Hemden entledigen. Gleichzeitig plant eBay, Prominentenhemden zu versteigern. Inwieweit damit diese Seite noch konstruktive Aktion ist oder nicht eher in Geldmache ausartet, lässt sich streiten. Stein weist allerdings bei
N-TV jeden Vorwurf der Geldmache von sich.

Im Netz hat diese Aktion schon die Runde gemacht. Jetzt soll laut
Spiegel auch in England Finanzminister Gordon Brown die Hemden seiner Untertanen zugeschickt bekommen. Initiator dieser Aktion ist allerdings kein Privatmensch, sondern die Zeitung “Daily Telegraph”.

Gewünschter Inhalt vor Qualität

Festzustellen ist aber, dass die Seiten, die zur Zeit entstehen, sich im Frust über die Regierung nähren. Aber wohin sie führen, ist unterschiedlich. Eine Menge Mediengetöse wird dabei sein. Ob diese Projekte nun Spaß sind, oder Kommerz, oder gar zu wirklicher politischer Aussagekraft führen, ist noch nicht abzusehen. Nur die Gefahr, dass diese Aktionen zu mehr oder weniger ungebetenen Mitstreitern führen. Die meisten dieser Seiten sind betont unversöhnlich. Es geht nicht um Verständigung. Daher ist es für den User nebensächlich, wie technisch perfekt diese Seiten sind. Und wie sehr diese Seiten um Objektivität bemüht sind. Dass auf
www.spd-wahlbetrug.de der höchste Prozentsatz der User, die dort abstimmen für Neuwahlen sind, überrascht nicht wirklich. Die Umfragen dieser Seiten sind nicht repräsentativ. Wer auf eine solche Seite klickt, erwartet kein Lob für Rot-Grün. Und sollte ein User in einem der Foren dann doch wagen, diese zu loben, macht er sich dort sicher keine Freunde.

Schwarzfahrer

Die von der CDU/CSU mitangefachte Negativstimmung gegenüber der Regierung gipfelt in der Einberufung des sogenannten „Lügenausschusses“. Sie ist vergleichbar mit den Anti-Stoiber Kampagnen vor der Wahl. Nur trifft es jetzt die andere Seite. Gefundenes Fressen für die Opposition. Sie können bequem auf den Zug aufspringen. Selbst haben sie neben ihrer
Rapid Response Seite auch die Seite
Wahl-Betrug entworfen, um zu zeigen “wo und wie Rot-Grün ihre Wahlversprechen jeden Tag aufs Neue brechen und welche Alternativen die Union für eine bessere Politik in Deutschland anbietet”. Dort kann man gleich einen Mitgliedsantrag herunterladen, sollte man „die Konzepte der CDU überzeugend“ finden. Und es wird auf die Seiten der Privatkampagnen verlinkt. Somit entsteht eine Zusammenarbeit zwischen parlamentarischer und außerparlamentarischer Opposition im Netz. Doch laufen die Privatseiten Gefahr, zu bloßen Zugpferden der Opposition zu werden.

Reaktionen der SPD?

Die SPD, vor der Wahl noch internettechnisch engagiert, hat bis jetzt keine Antwort auf die Flut der Anti Seiten gefunden. Die Gründe die sie hierfür angeben sind ähnlich denen, weshalb Schröder nicht auf Kanzlersong etc. eingeht: „Eine sachbezogene Diskussion ist uns jederzeit willkommen,“ sagen die
Web-Sozis, aber diese Kampagnen sehen sie nicht als solche an. Sie sind überzeugt, dass ihre Webmaster „auf den von ihnen betreuten SPD-Seiten die Strategie der CDU/CSU aufdecken“ werden. Allerdings gehen die WebSozis damit auch nur auf die Aktionen der Opposition ein. Die anderen privaten Seiten werden nicht erwähnt. Auch auf den Netzseiten der Regierung wird auf diese Seiten nicht eingegangen. Allerdings reagiert man dort auf den „Kampagnenjournalismus“ der Bild-Zeitung mit einer
Gegendarstellung. Wahrscheinlich schätzen sie die privaten Seiten als reinen Hype ein und jeder Hype endet einmal.

Entsteht eine neue Opposition?

Es ist verfrüht, in dieser Sache von der Entstehung einer neuen politischen Protestform zu sprechen. Und ob diese „außerparlamentarische Opposition“ (APO) eine kurzlebige Angelegenheit ist, wird sich erst in den nächsten Monaten zeigen. Die Webseiten zeigen, dass es Bürgern möglich ist, ihre Meinung öffentlich kund zu tun. Die Seiten der Privatkampagnen versuchen, die Stimmung in der Bevölkerung abzubilden.Wenn sie denn Internetzugang haben und Seiten erstellen können. Und dass das Internet dafür eine perfekte Plattform ist. Allerdings kann eine wirkliche Meinungsmanifestation der Bürger erst dann stattfinden, wenn die Seiten dem Stigma der Kommerzialisierung und der reinen Stimmungsmache entgehen. Anonym dem Kanzler eine
eMail zu schicken, ist kein ernstzunehmender Protest, da eine ernstzunehmende Unterschriftenaktion sich nicht hinter Anonymität verstecken kann.

Erschienen am 12.12.2002