In welcher Welt wollen wir in Zukunft leben? Das möchten auch die Vereinten Nationen von uns wissen und nutzen dafür zum ersten Mal das Internet, um gemeinsam mit den Bürgern eine Entwicklungsagenda für die Zeit nach 2015 auszuarbeiten. Über ein ehrgeiziges Crowdsourcing-Projekt.
Als vor 13 Jahren das 21. Jahrhundert anbrach, legten die Vereinten Nationen einen ambitionierten Plan vor, um Armut, Krankheiten und Hunger auf der Welt spürbar zu reduzieren: die Millenniums-Entwicklungsziele. Bis zum Jahr 2015 sollten acht messbare Ziele erreicht werden, darunter die Halbierung der Zahl der unter Armut Leidenden und der universelle Zugang zu Primärschulbildung.
Entwicklung passiert nicht von heute auf morgen. Daher ist es heute gewissermaßen „fünf vor 12“, was die Erreichung der Millenniumsziele bis 2015 angeht. Das Zwischenfazit kurz vor Fristende fällt durchwachsen aus: In einigen Regionen dieser Erde haben sich die Lebensumstände vieler Menschen substantiell verbessert, in manchen Ländern sind sie jedoch schlimmer als jemals zuvor. Klar ist, dass diese Aufgabe der Weltgemeinschaft in zwei Jahren nicht erledigt sein wird und die Millenniumsziele einen Nachfolger brauchen.
“My World” und “World We Want”: Plattformen für Online-Bürgerbeteiligung
Bei der Erarbeitung des Nachfolgers, der in der internationalen Entwicklungsszene unter dem Arbeitstitel „post 2015 Development Agenda“ bekannt ist, setzt die UN auf weltweite digitale Bürgerbeteiligung. Während die Millenniums-Entwicklungsziele für 2015 hinter geschlossenen New Yorker Konferenzsaaltüren ausgehandelt worden sind, sollen diesmal diejenigen, um die es geht, selbst mitreden. Dazu haben die Vereinten Nationen zwei Online-Plattformen ins Netz gestellt: Das ist zum einen die Beteiligungsplattform World We Want 2015. Auf dieser können inhaltliche Vorschläge zu bestimmten Entwicklungsthemen gemacht werden, zu denen gleichzeitig Konferenzen in verschiedenen Ländern stattfinden. Hiermit wird eher ein Fachpublikum angesprochen. Die zweite Plattform ist ein globaler Survey namens My World, der sich an die Masse der Weltbürger richtet. In dem Online-Fragebogen werden die Menschen gefragt, was für ihr Leben am wichtigsten ist. 16 Lebensbereiche sind dabei vorgeben (z.B. Bürgerrechte, Gleichberechtigung, medizinische Versorgung), aus denen die Teilnehmer sechs auswählen dürfen, ein weiterer kann eigenständig hinzugefügt werden. In Ländern mit geringer Internetverbreitung kann auch per SMS oder auf Papier abgestimmt werden.
Klingt wieder ambitioniert. Klingt wieder nach keiner schlechten Idee. UN-Mitarbeiter in New York sprechen schon von der Entdeckung der „Citizen Diplomacy“. Nach „Citizen Journalism“ soll die Diplomatie also die nächste Domäne sein, die seit jeher in der Hand einer kleinen Elite lag und nun mittels digitaler Technologie von der Masse erobert werden soll? Soweit wird es vermutlich nicht kommen. Die interessante Frage ist jedoch, inwiefern sich diese zeitgemäße Form der globalen Bürgerbeteiligung in die scheinbar reformimmune Organisationsform der Weltgemeinschaft einspeisen lässt?
Die globale Occupy-Bewegung und die europaweiten „Anti-Austerity“ Proteste sind Beispiele dafür, dass eine Vielzahl politisch aktiver Menschen in supranationalen Dimensionen denkt. Diese vernetzten Weltbürger haben ein Bedürfnis nach solchen globalen Partizipationsformaten. Mindestens zwei Hürden müssen die Vereinten Nationen jedoch überwinden, damit die „My World“-Idee diesem Bedarf auch gerecht wird: Zum einen muss die UN eine ausreichend große Stichprobe für die Befragung erreichen. Zwei Monate nach dem Start von „My World“ und knapp zwei Monate bevor ein erster finaler Report einem Sondergremium des UN-Generalsekretärs vorgelegt werden soll, haben erst knapp über 250.000 Menschen teilgenommen. Zwar kommen die Teilnehmer aus allen 193 UN-Mitgliedsstaaten, aber sie repräsentieren nur etwa 0,003 Prozent der Weltbevölkerung und auch nur 0,02 Prozent der in Armut lebenden Menschen.
Große Ambitionen mit bislang kleinem Erfolg
Es ist also eine massive öffentliche Kampagne notwendig, um mehr Menschen über die Online-Befragung zu informieren und zur Teilnahme zu bewegen. Hierbei verlässt sich New York gerne auf die UN-Repräsentanzen in den Mitgliedsstaaten. Ob das jedoch ausreicht, ist fraglich. So wurde in Deutschland parallel eine Abwandlung des Fragebogens geschaltet. Auf www.worldwewant.de waren bis Ende März junge Menschen aufgefordert, zu Fragen wie „Welche drei Anliegen sind besonders für Kinder und Jugendliche in Deutschland wichtig?“ Stellung zu nehmen. Mitgemacht haben aber nur 334.
Die zweite Hürde ergibt sich aus der Tatsache, dass es nicht die „post 2015“-Macher bei der UN sind, die die Mitgliedsstaaten zu dieser oder jener Entwicklungspolitik verpflichten können, sondern nur die Mitgliedsstaaten selbst. Sogar wenn der nächsten UN-Generalversammlung im Herbst dieses Jahres robuste Ergebnisse der Befragung vorgelegt werden, kann es immer noch passieren, dass sich die Nationen andere entwicklungspolitische Prioritäten setzen oder zu gar keiner Einigung kommen. Wie will man das dann den engagierten Bürgern dieser Welt erklären?
Vielleicht versprechen sich die UN-Mitarbeiter, dass sich die Regierungen eher mit den Stimmen der Bürger als mit Expertenpapieren überzeugen lassen. Vielleicht fühlt sich eine frühzeitig eingebundene Zivilgesellschaft stärker mitverantwortlich für das Erreichen internationaler Entwicklungsziele und drängt ihre nationalen Politiker zur Einhaltung entsprechender Vereinbarungen. Es wäre wünschenswert. Sollte der Versuch, die neue Entwicklungsagenda per „Crowdsourcing“ mitzuschreiben, fehlschlagen und sich das Projekt auch nicht mehr unter den Teppich kehren lassen, riskiert die Weltgemeinschaft allerdings, ihr ohnehin schon angeschlagenes Image weiter zu verschlechtern.
Bilder: Jean-Marc Ferre cc by-nc-nd 3.0 ; UN