Der Journalismus macht derzeit die vielleicht größte Transformation seiner Geschichte durch. Dabei geht es mitnichten allein um die bisher unbeantwortete Frage nach tragfähigen Geschäftsmodellen im Internet, wo Werbung wenig Geld bringt und Nutzer kostenlose journalistische Angebote gewohnt sind. Es geht auch um neue Datenquellen, die online so leicht zugänglich sind wie nie zuvor. Einer der Trends: Kriegsberichterstattung am Laptop.
Der nie versiegende Quellenstrom
Ein Artikel ist immer nur so gut wie seine Quellen – und die Quellen im Netz versiegen nie. Rein quantitativ bietet sich dem heutigen Journalisten eine bis dato ungekannte Vielzahl an Eindrücken und Analysen, ein unendlicher Strom aus Social-Media- und Blogbeiträgen. Die re:publica-Referenten zum Thema “Investigation 2.0” machten deutlich, dass die rein analoge Recherche ein Relikt des 20. Jahrhunderts ist – als Watergate und Schwarzgeldkonten mit Schreibmaschine, Telefon und Reisepass aufgedeckt wurden. Ersetzt werden sollen die klassischen Tugenden investigativer Recherche jedoch nicht. “Ergänzung” lautet die Losung der Stunde, die Stephanie Hankey und Marek Tuszynski vom Aktivisten-Netzwerk tacticaltech während ihres Vortrags proklamierten. Beispielhaft verwiesen sie auf den Fundus an Daten aus Kriegsgebieten, den Blogger und Hacker online zusammentragen.
Der Videobeweis als verlässliche Quelle
Der Blogger “Brown Moses“ z. B. durchforstet YouTube und Twitter nach Kriegsvideos, auf denen Waffen zu sehen sind. So möchte er einen Beitrag dazu leisten, Menschenrechtsorganisationen und Journalisten in ihrer Berichterstattung zu unterstützen, etwa über den Syrien-Konflikt. Der Guardian spricht Moses die Leistung zu, den Einsatz von Streubomben durch Assads Truppen offengelegt zu haben. Hankey und Marek von tacticaltech sehen in Moses’ Arbeit einen Ausgangspunkt, Waffenlieferungen nachzuverfolgen.
Abstraktion von Daten
An Sichtbarmachung ist auch Pitch Interaktiv gelegen, einem in San Francisco ansässigen Studio zur Datenvisualisierung. Auf ihrer Website stellen die Mitarbeiter entlang einer Zeitleiste dar, wie viele Menschen in Pakistan seit 2004 Dronenangriffen zum Opfer fielen, unterteilt in die Kategorien “Kinder”, “Zivilisten” und “andere”. Das Studio schätzt die Gesamtopferzahl auf 3.115, wobei weniger als zwei Prozent davon “high-profile targets” seien, also aus Perspektive der USA wichtige Ziele. “Out of side, out of mind” heißt das Online-Projekt. Es ist ein doppeldeutiger Titel, der auf zweierlei anspielt: zum einen auf die technisch bedingte Distanz, die aus Angreifersicht zum Kriegsgeschehen besteht, zum anderen auf die kurzfristige öffentliche Aufmerksamkeit.
Hingeschaut und weggesperrt
Die Instagram-Seite Dronestagram zeigt Satelitenbilder der Regionen, die von Dronenattacken betroffen waren. Zu sehen sind jedoch keine Verwüstungen. James Bridle liegt daran, den für das westliche Auge nahezu unsichtbaren Gebieten überhaupt ein Gesicht zu geben. Er postet die Fotos und bestückt sie mit erklärenden Texten, sorgt so für Aufmerksamkeit und Einordnung. Dazu bedient sich Bridle aus online frei zugänglichen Quellen, genau wie es auch bei den anderen Beispielen der Fall ist.
Werden brisante Informationen aber von Regierung und/oder Militär unter Verschluss gehalten, bleibt nur der Leak, die illegale Offenlegung. Das Scoop-Potential für Journalisten ist hier deutlich höher – wie das Schicksal des inhaftierten US-Soldaten Bradley Manning jedoch verdeutlicht, auch das Risiko für den Whistleblower. Manning hatte u. a. mit einem auf Wikileaks publizierten Video für Aufsehen gesorgt, auf dem die Tötung von Zivilisten zu sehen ist, die von US-Soldaten irrtümlicherweise für Gegner gehalten wurden.
Zu einfach?
Doch selbstverständlich löst das Internet mit seinen vielen ansprechend aufbereiteten Datensammlungen, Bildern und Videos nicht den vielleicht wichtigsten Grundsatz der Kriegsberichterstattung auf, wonach die Wahrheit das erste Opfer des Krieges ist. Sie kann den Kombattanten nicht einfach entrissen und in eine objektive Blogosphäre überführt werden, aus der sie, ansprechend visualisiert, von Journalisten heruntergeladen wird. Potentiell sind Datenmenge wie -handhabung größer bzw. einfacher geworden, im Einzelfall jedoch bedarf es nach wie vor des Quellenchecks. Wie soll etwa anhand eines Videos eindeutig bewiesen werden, wer für den Giftgas-Einsatz in Syrien verantwortlich ist? Könnte ein entsprechender Ausschnitt nicht aus dem Kontext gelöst oder manipuliert worden sein? Und welcher Journalist kann auf die Schnelle überprüfen, inwieweit die Zahl der Dronenopfer auf der Grafik von Pitch Interaktiv tatsächlich realistisch ist?
It’s your job!
Die neuen Digital-Tools sind, besonders in ausgedünnten Redaktionen, geradezu gefährlich verführerisch. Die Wahrheit scheint bloß einen Klick entfernt – also ist Verifizierung wichtiger denn je. „Online Journalism Blog“ bringt es auf den Punkt: „How do you know the source is telling the truth? You’re a journalist, for god’s sake: it’s your job to find out.” Da hilft es dann, sich die klassischen Anfängertipps zurück ins Gedächtnis zu rufen, die im Twitter-Takt heute genauso gelten wie zu Zeiten von Woodwards und Bernsteins Watergate-Enthüllung: Vertraue niemals nur einer Quelle allein, sprich mit den Informanten und glaube erst mal nichts, was zu gut klingt, um wahr zu sein.
Ausführliche Tipps zum Quellen-Check: emergencyjournalism.net
Bilder: Doctress Neutopia (CC BY-NC-SA 2.0)