Arbeiten, um zu leben? Leben, um zu arbeiten? Die Diskussion um den gesellschaftlichen Stellenwert von Arbeit wird in den Zeiten der Digitalisierung auch zunehmend zu einer Debatte über Identität und Notwendigkeit. Denn was passiert, wenn durch den Wandel relevante soziale Strukturen plötzlich radikale Umbrüche erfahren? Haben wir uns sozusagen selbst unnütz gemacht? Ein Kommentar.

Wären Zeitreisen nicht immer noch eine der wenigen Utopien unserer postmodernen Technologiegesellschaft, so könnte man sie direkt fragen: Die Menschen der vergangenen Jahrhunderte und Jahrtausende, die ihren täglichen Überlebenskampf durch Substistenzwirtschaft, Ackerbau und schweißtreibende Akkordarbeit in Fabriken bestritten. Was für sie wohl eher eine paradiesische Fantasie darstellte, könnte in naher Zukunft Realität werden – und für Viele heute schon ein Albtraum: Die (fast) arbeitslose Gesellschaft. Es könnte nicht mehr allzulange dauern, bis die Industrie 4.0 unser Verständnis von Arbeit vollständig revolutioniert. Intelligente Maschinen übernehmen dann einen Großteil von dem, was wir heutzutage noch selbst erledigen. Sie vernetzen sich autonom, produzieren und selektieren relevante Informationen. Sie sind Chauffeur, Dienstleister, Anwalt. Übrig bleiben all jene Jobs in Branchen, in denen zwischenmenschliche Kommunikation als unersetzlich angesehen wird – oder die, bei denen Maschinen nicht eingesetzt werden können.

Arbeit als soziales Kapital

Das klingt auf den ersten Blick fantastisch, denn: Schon seit Menschengedenken wird versucht, etwa mit Hilfe von effizienzsteigernden Werkzeugen Arbeitsprozesse zu optimieren. Der Versuch, Zeit und Energie durch den Einsatz arbeits-erleichternder Hilfsmittel zu sparen, diente natürlich lange zuallererst der Selbsterhaltung. Trotzdem ging es hier auch immer um Zeiteinsparung. Zeit, die aus der heutigen Perspektive wiederum für die höheren Genüsse und Freuden des Lebens übrig bleiben könnte: Freunde, Familie, Partnerschaft, Hobbys. Sollte man meinen. Doch mit der Industriegesellschaft und der ökonomischen Weiterentwicklung hat auch ein ideologischer Paradigmenwechsel stattgefunden.

Arbeit ist längst nicht mehr nur lästiges Übel. Blickt man auf die Entwicklungen des späten 19. Jahrhunderts bis heute, so lässt sich vor allem eines feststellen: Arbeit ist zum Selbstzweck geworden. Zwar kann nicht verleugnet werden, dass ihre Bedeutung etwa im Vergleich zu den 50er und 60er Jahren durchaus einen kulturellen Bedeutungswandel erfahren hat. Nichtsdestotrotz sind Begriffe wie “Tüchtigkeit”, “Fleiß” und “hohe Arbeitsmoral” auch heute noch Tugenden, die nicht nur als Plattitüden Arbeitszeugnisse schmücken. Wer hart arbeitet und Leistung bringt, der erfährt auch Anerkennung, so der soziale Mechanismus. Der Selbstoptimierungsanspruch der ausdifferenzierten Hochleistungsgesellschaft verschärft dieses Denken sogar noch einmal erheblich. Denn auch für eigentlich erfüllende Jobs sind enorm hohe Erwartungshaltungen ab einem gewissen Punkt schädlich.

Alte Konzepte helfen kaum

Eben diese Mentalität ist es, die die Integration der Gesellschaft in das kommende Digitalzeitalter zunehmend erschwert. Und das betrifft alle. Unternehmer sorgen sich um flexiblere Arbeitszeiten im Betrieb, Arbeitnehmer um ihren Arbeitsplatz und die Politik steht gar vor einem völligen Umdenken, weil althergebrachte ideologische Parteigrundsätze durch die Digitalisierung sichtbar infrage gestellt werden. Bestes Beispiel Grundeinkommen: Weil durch den digitalen Wandel nicht nur viele Arbeitsplätze verloren gehen, sondern auch der Arbeitsmarkt völlig umstrukturiert werden muss, braucht es neue Konzepte. Diese Konzepte und Strategien können jedoch kaum aus dem Blickwinkel gewerkschaftlicher Tarifverträge und fixer Wochenarbeitszeit gelöst werden. Ebenso ist es wenig realistisch, Vollbeschäftigung als politisches, weil psychologisches Allheilmittel für eine funktionierende Gesellschaft zu betrachten. Dennoch dominieren derartige Vorstellungen unsere heutige Kultur und werden auch in Debatten immer wieder argumentativ gegen eine bedingungslose Mindestsicherung genutzt.

Arbeit ist fester Bestandteil der eigenen Identität

Das ist auch nur verständlich, denn wer einen Großteil seiner Lebenszeit im Job verbringt, für den ist Arbeit nicht nur reine Erwerbstätigkeit. Sie schafft Kommunikation, feste soziale Strukturen, das Gefühl gebraucht zu werden und damit schlussendlich auch einen Teil unserer Identität. Unsere Gesellschaft ist ohne Frage arbeits-fokussiert. Wer nicht arbeitet, der ist nicht solidarisch. Er leistet nichts für die Gemeinschaft und könnte ihr sogar gefährlich werden, denn wie ein Sprichwort sagt: Beschäftige dich, sonst kommt der Kopf noch auf dumme Gedanken. So ließ Detlef Scheele, Vorsitzender der Bundesagentur für Arbeit, bei einer Fraktions-Veranstaltung der SPD kürzlich verlauten, Beschäftigungslosigkeit führe häufig zu einem persönlichen Gefühl der “Entwertung” bei Betroffenen. Deshalb sei es besonders für Kinder wichtig, dass das Arbeitsamt Eltern irgendeine Art von Job verschaffe, schon um den innerfamiliären Vorbildcharakter zu wahren.

Digitalisierung ist kein reines “Selbstverwirklichungs-Programm”

Jene Art zu denken kann im digitalen Wandel jedoch kaum bestehen. Der Philosoph Richard David Precht etwa betont in Interviews immer wieder, die Vorstellung von Arbeit müsse vollkommen transformiert werden. Arbeit werde für die Menschen künftig viel mehr als das definiert werden, “worin sie selbst vorkommen und nicht als das, wofür sie Geld kriegen.” Dies darf nicht falsch verstanden werden: Die Digitalisierung ist, zumindest kurzfristig, kein reines “Selbstverwirklichungs-Programm”. Arbeit verändert sich, Arbeitsplätze werden weniger, aber sie werden auch weiterhin existieren. Vielmehr geht es darum, angemessen und sozialverträglich auf deutlich kürzere Arbeitszeiten und die Flexibilität zu reagieren, die die digitale Dynamik mit sich bringt. Wir müssen die Freiräume und Optionen nutzen, um soziale Sicherheit in einem neuen gesellschaftlichen Klima zu schaffen. Hierbei dürfen wir uns jedoch nicht ausschließlich bereits existierenden sozialpolitischen Instrumenten widmen, die rein auf Umverteilung und veralteter Arbeitsethik beruhen.

Kultureller Wandel und kluge Politik sind nötig

Wichtiger wäre es, zu akzeptieren, dass sich unsere Vorstellung des Arbeitsbegriffs in naher Zukunft stark verändern wird. Wie genau, das lässt sich bisher kaum vorhersagen. Klar ist aber, dass es nicht nur eines strukturellen, sondern vor allem auch eines kulturellen Wandels bedarf. Denn die Digitalisierung bietet uns letztendlich auch die Möglichkeit, die immer häufigere Diagnose “Burn-Out” zu bekämpfen. Und: Mehr Zeit bietet auch mehr Freiraum für kreative Schaffensprozesse. Dies könnte auch Innovationen antreiben und damit die Qualität von Dienstleistungen und Produkten erhöhen. Auch wenn sich viele darum sorgen, es könne zu einer weiteren Spaltung der Gesellschaft in Digitalisierungs-Gewinner und -Verlierer kommen: Schlussendlich können wir einer solchen Entwicklung nur durch kluge Konzepte der Sozialpolitik und konsequente Investition in digitale Weiterbildung begegnen. Denn die Digitalisierung wird kommen, doch die Gestaltungsmöglichkeiten sind vielfältig. Gerade deshalb kommt es auf die richtige Herangehensweise an. Um Ängste zu vermeiden und Herausforderungen zu bewerkstelligen.

Titelbild: working late, by Tobi Gaulke on Flickr, CC-BY-NC-ND 2.0

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