In den vergangenen Tagen wurde vielfach Kritik am Umgang der Medien mit dem Absturz des German Wings-Flugzeugs und an der Berichterstattung über den Co-Piloten laut. politik-digital.de bat den Leiter der Evangelischen Journalistenschule in Berlin, Oscar Tiefenthal, um seine Einschätzung zu Medienkritik, Pressekodex und die Aufgaben des Presserates gesprochen.
politik-digital.de: Hat Sie die heftige Kritik an der Berichterstattung – insbesondere der Ursachen des Absturzes der German Wings-Maschine – durch a) die Leser und b) andere Journalisten überrascht?
Oscar Tiefenthal: Nein, es hätte mich eher überrascht, wenn Leser und Journalisten nicht reagiert hätten. Wir haben mittlerweile ja die Dauer-Medienkritik in Echtzeit. Das tut manchmal weh, damit müssen wir erst angemessen umzugehen lernen
politik-digital.de: Rührt die Kritik primär aus der Art und Weise, wie über den Absturz berichtet wurde, oder stand eine Medien- und Medienethik-Debatte schon länger an? Wo ist diese Kritik Ihres Erachtens berechtigt, wo übertrieben? Beschädigt die Journalismus-Diskussion und -kritik die Glaubwürdigkeit des Journalismus insgesamt?
O.T.: Die Kritik ist immer dann berechtigt, wenn in der Berichterstattung die nötige Rücksicht und Distanz auf die Würde von Opfern und Angehörigen fehlt. Das hat es auch diesmal gegeben und ist nicht zu entschuldigen. Die Debatte wird dann scheinheilig, wenn man so tut, als ob die Medien allein die Gatekeeper der Privatsphäre von Opfern oder mutmaßlichen Tätern seien. Die Diskussion etwa um die Namensnennung des Co-Piloten war absurd. Die französische Staatsanwaltschaft hat den Namen herausgegeben, daraufhin wurde Andreas Lubitz weltweit in zahlreihen Medien etwa der „New York Times“ genannt. Das halte ich für legitim. Der manchmal leider schon reflexhaften Journalismuskritik auf Twitter und Facebook müssen wir uns offen stellen, das dient der Glaubwürdigkeit.
politik-digital.de: Wo ist Kritik an Sensationsjournalismus Ihres Erachtens berechtigt? Wo ist eine Entrüstung über journalistische Fehlleistungen aber selbst Katalysator eines “Empörungskarusells”?
O.T.: Die Sensation ist mindestens ebenso eine Mutter des Journalismus wie die Suche nach der Wahrheit. Das mag uns nicht gefallen, aber die Neugier auf das Tragische ist eine sehr menschliche Eigenschaft, die ganz offenbar nicht auf Journalisten beschränkt ist. Auch bei tragischen Unglücken dieser Tragweite, ist es die Hauptaufgabe der Medien fortwährend und sorgfältig die Faktenlage zu klären und nicht wild durcheinander zu spekulieren. Wenn es in TV-Sondersendungen mehr um Vermutungen und weniger um Fakten geht, dann ist die Kritik an dieser Art von Berichterstattung sehr berechtigt. Ferner müssen insbesondere die Persönlichkeitsrechte von Opfern und Angehörigen respektiert werden. Dazu ist eine hohe Sensibilität bei der Auswahl von Filmausschnitten oder Fotos geboten. Dieses Feingefühl scheint bei einigen Medien gestört zu sein, wenn zum Beispiel das Elternhaus von Andreas Lubitz gezeigt wird. Auch die Angehörigen des Co-Piloten verdienen Respekt und Rücksichtnahme.
politik-digital.de: Glauben Sie, dass die aktuelle Diskussion die Fronten nur verhärtet oder sehen Sie einen positiven Effekt auf die zukünftige Berichterstattung? Glauben Sie, dass aus dem Fall 4U9525 neue Standards der Berichterstattung hervorgehen werden? Wird es einen “offeneren” oder “strikteren” Umgang mit Persönlichkeitsrechten geben?
O.T.: Es geht nicht um neue Regeln, es geht um die Beachtung der vorhandenen gesetzlichen und berufsethischen Regeln, etwa aus dem Pressekodex. Regelungsbedarf durch den Gesetzgeber sehe ich nicht.
politik-digital.de: Wie vermittelt die Evangelische Journalistenschule die journalistische Sorgfaltspflicht? Welchen Umgang mit Spekulationen und Mutmaßungen empfehlen Sie Ihren SchülerInnen in solchen Extremsituationen wie nach dem Absturz der GermanWings-Maschine?
O.T.: Wir vermitteln sowohl die juristischen als auch die Grundlagen des Pressekodex sehr intensiv. Vor Beginn des Seminartages wird bei uns täglich 30 Minuten in der „Morgenzeit“ vorwiegend über berufsethische Fragen diskutiert.
politik-digital.de: Wie gehen (Nachwuchs-)Journalisten mit einer “Echtzeit-Medienkritik” um, die das Internet mit seinen reichweitenstarken (sozialen) Kanälen ermöglicht?
O.T.: Sehr bewusst, aufmerksam und sensibel, ist mein Eindruck. Es gibt ein großes Diskussionsbedürfnis über diese Art an neuartiger Medienschelte im Netz.
politik-digital.de: Welche Rolle spielt der Pressekodex heute noch in der Ausbildung der Journalisten? Gibt es interne Diskussionen über den Kodex? Ist er noch zeitgemäß?
O.T.: Der Pressekodex ist wichtig und die Arbeit des Presserates kann nicht hoch genug bewertet werden. Es wäre allerdings nicht schlecht, wenn dem Tiger auch ein paar Zähne wüchsen und schneller auf Beschwerden reagiert würde. Eine öffentliche Rüge, die dann im Zweifel ignoriert wird, ist nicht gerade eindrucksvoll. Die Zuständigkeit des Presserates sollte ausdrücklich auf Online, Hörfunk und Fernsehen ausgeweitet werden. Dazu muss der Presserat seine Zusammensetzung überdenken und der Pressekodex erheblich angepasst und präzisiert werden.
politik-digital.de: Wie sollte man in unserer beschleunigten (Medien-)Welt mit dem Druck der schnellsten Nachricht umgehen? Gibt es bei solchen Ereignissen einen größeren Druck auf die Redaktionen durch die internationale Konkurrenz? Wenn ja, wie wirkt sich das aus?
O.T.: Es ist vielmehr die Gleichzeitigkeit und scheinbare Gleichwertigkeit von Nachrichten, die uns heute zu schaffen macht. Der klassische Nachrichtenjournalismus ist mausetot. Heute geht es wesentlich mehr um Themensetzung, Hintergrund, Analyse und Einordnung von Nachrichten.
politik-digital.de: Glauben Sie, dass die zunehmende Zahl an freiberuflichen und prekär beschäftigten Journalisten die Zunft spaltet, wodurch die gegenseitige Kritik von „freien“ und festangestellten Journalisten aneinander befeuert wird?
O.T.: Wir wären als Journalisten sehr schlecht beraten, wenn wir dieses Spalterspiel mitspielen. Allerdings haben aus meiner Sicht die Gewerkschaften bei der Vertretung der Interessen von Freien weitgehend versagt. Sonst müsste es eine Organisation wie Freischreiber nicht geben.
Bild: Graham Holliday
Porträt: Evangelische Journalistenschule
[…] MEDIENKRITIK Politik Digital: “Dem Presserat müssten ein paar Zähne wachsen!”: In den vergangenen Tagen wurde vielfach Kritik am Umgang der Medien mit dem Absturz des German Wings-Flugzeugs und an der Berichterstattung über den Co-Piloten laut. Simone Jost-Westendorf von Politik-Digital.de bat den Leiter der Evangelischen Journalistenschule in Berlin, Oscar Tiefenthal, um seine Einschätzung zu Medienkritik, Pressekodex und die Aufgaben des Presserates gesprochen. […]
Ein sehr schönes Interview mit einem Kritiker und Medienehtiker. Ach ja. Wie mer in Frankfurt sacht: “Die schärfsten Kritiker der Elche, warn früher selber welche” (Titanic) Oder sich an ADORNO : Die Nachricht als Ware erinnernd wundert es mich als Soziologe nicht, wenn mann frech wie Ihr Gesprächspartner Oscar Tiefenthal trotz oder gerade wegen einer erfolgreichen Springer Vergangenheit zum Leiter einer evangelischen Journalistenschule werden kann und dann als Ethik Experte von politik- digital hier über ehemalige Kolleginnen und Kollegen ethisieren darf, natürlich mit der dem Journalisten Berufstand Dünkel folgenden Abwertung von Social Media … Wir leben in Zeiten der Postmoderne und des Anything goes. Da darf man sich als Beobachter und Teil dieser Gesellschaft von Beliebigkeitslosen eigentlich über nix mehr wündern, oder ärgern oder gar moralisieren, eigentlich nur noch wundern oder staunen, was alles möglich ist, wie Medien nurmehr darüber zu berichten scheinen, was Menschen alles tun, um selbst in die Medien zu kommen. Ratschlag aus der Praxissoziologie: “Man kann die Menschen nicht zwingen die Wahrheit zu sagen, wohl aber dazu bringen, dass sie glauben immer unverschämter lügen zu müssen.” und nur dann fällts gelegentlich auf mit welcher kognitiver Dissonanz es sich gut und erfolgreich leben und arbeiten und Karriere machen lässt. Wer darüber lamentiert, dem sei die Lektüre von Paul Virilio empfohlen, er meint und begründet eine kommende Paradoxie der Aufklärung, sie führt zum sich in den sozialen Medien und dem Internetzeitalter bereits entwickelnden Universalmonitor, der eine eigene Realität schafft. Wo jede Kamera eben auch von einem anderen Sensor dabei wahr genommen und beobachtet wird, wie sie beobachtet. Der mal zahnlosen mal wahllos wutbuergerlich um sich schlagenden Kritik am Verhalten der Mitarbeiter der Aufmerksamkeitsökonomie entgeht diese paradoxe Entwicklung, sie sieht wohl stets nur einen Teil des flatscreens des Universalmonitors. Daher ist es vielleicht nicht ganz unnütz einer Literaturempfehlung zu folgen und Die Abenteuer der Kommunikation des Berliner Soziologen Harald Wenzel zu lesen,Ein Buch, dass schon 2001 erschienen ist und wegen seiner scharfen inhaltlichen Analyse des durch Ekel vor der Masse Habitus der Forschung (Howard Gans) kaum wahr genommen wurde, schreibt Wenzel doch zwischen allen Stühlen sitzend und empirisch begründet, dass es große ja skandalöse Versäumnisse der (Er)Forschung von Massenmedien durch Soziologie von der nicht eingelösten Forderung von Max Weber bis heute gibt. Ansätze dazu gibt es – man müsste die Nervenenden nordamerikanischer Autoren wie Dewey und Lippman mit einer erneuten Parsons Lekture und neuesten soziologischen außenseitern verbinden… Da dies bis heute unterblieben ist, können halt auch dem Presserat bis heute keine Zähne gewachsen sein. Da die aufgeklärte Masse eben folgen wir Virilio paradox reagiert, eben auf Facebook sowohl mit Kondolenzbuch als auch Pranger für Qualitätsmedien folgt danach eben Desinteresse und man erfreut sich wieder an Katzenbildern und Aprilscherzen.