Längst erreicht das Internet mehr Menschen als der traditionelle Stammtisch. Doch wenn es um Online-Bürgerbeteiligung an Politik geht, stehen wir noch ganz am Anfang. Nicht die Masse hat mehr Macht, sondern bislang nur eine Teil-Elite des Internets. Shitstorms und Diskussionen im Netz sind also nicht repräsentativ, so das Ergebnis einer Diskussion vergangene Woche im Digitalen Salon.
Der „Digitale Salon“ zum Thema „Masse und Macht im digitalen Zeitalter“, der am vergangenen Freitag in Berlin stattfand, wurde vom Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft (HIIG) und vom Deutschlandradio organisiert. Man wollte darüber diskutieren, ob E-Democracy und E-Partizipation eine Neuerfindung der Demokratie sind und ob Schwärme, Communities und Shitstorms überhaupt relevant sind. Die Bilanz fiel frustrierend aus. Doch erst nachdem die Kameras für den Livestream ausgeschaltet waren, redeten die Diskutanten frei heraus.
Gastgeber Ralf Müller-Schmid, Leiter von DRadio Wissen, zitierte Elias Canetti, um das Verhältnis vieler Bürger zum Internet zu beschreiben: “Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes”. Damit war eine Richtung vorgegeben. Anke Domscheit-Berg, langjährige Managerin bei Microsoft und heutige Netzaktivistin mit den Schwerpunkten Open Data und Open Government, griff das Zitat auf. Das frisch gebackene Mitglied der Piratenpartei sah in dem Bedürfnis nach mehr Beteiligung ein Zeichen für fehlendes Vertrauen der Bürger in die Politiker. So forderte sie mehr Transparenz, offene Lobby-Register, öffentlich zugängliche Listen von Politiker-Gehältern und eine Teilhabe von unten nach oben („bottom-up“) bei der Entstehung von Gesetzen. Domscheit-Berg schätzt, dass es allerdings noch 25 Jahre dauern werde, bis Deutschland diese emanzipierte aufklärerische Gesellschaft sei. Aktuell befänden wir uns noch „im Kindergarten der Bürgerbeteiligung im Internet“.
Einer ihrer Mitdiskutanten, der Vorstandsvorsitzende der XING AG Stefan Gross-Selbeck, warnte dann auch gleich vor einer künftigen “Diktatur der Masse”, noch jedoch sei Online-Bürgerbeteiligung kein demokratischer Prozess. Denn die kleine Internet-Community sei alles andere als repräsentativ für alle Bürger. Der XING-Manager ist überzeugt, dass das Internet nach der 1:99-Regel funktioniere: Einer beteilige sich, 99 nicht. Die Community sei noch zu klein, um alle Bürger zu repräsentieren. Domscheit-Berg pflichtete ihm bei, auch sie sieht die Macht klar auf Politik und im Hinterzimmer eingeschränkt, daran habe das Internet bislang nichts ändern können. Für diesen Zustand macht Wolfgang Schulz, Gründungsdirektor des HIIG und Direktoriumsmitglied des Hans-Bredow-Instituts für Medienforschung in Hamburg, insbesondere die Lagerteilung zwischen den deutschen Politikern verantwortlich und betitelte die Lage gar als ‘epistemic closure’ – den schleichenden Prozess in den Stillstand.
Auch Martin Heidingsfelder, Internetunternehmer und Gründer der Plagiatsjägerplattform Vroni-Plag macht sich keine Illusionen über die Macht der Masse. Die Guttenberg-Plagiatsaffäre hätte es laut ihm auch ohne das Internet gegeben. Ebenso hätte der Wulff-Skandal so oder ähnlich auch ohne das Internet stattgefunden, der Unterschied sei, dass der Protest in den sozialen Medien organisiert wurde. Das Internet sei das schnellere und effizientere Medium, jedoch kein Ersatz für die „alten Medien“, bestätigte Schulz. Gross-Selbeck immerhin sieht eine Machtverschiebung, die durch das Internet ausgelöst wurde: Unternehmer richteten sich heute mehr denn je nach den Kunden.
Shitstorms schaffen Bewusstsein, lösen aber keine Probleme.
Dank der Anonymität im Internet entflöhen Bürger der sozialen Kontrolle. Dies sei insbesondere bei Shitstorms zu beobachten, wenn händeringend neue Wege gesucht würden, um eine gewisse Konstruktivität in der Diskussion herzustellen. Shitstorms schafften lediglich Bewusstsein, lösten aber die Probleme nicht, so Gross-Selbeck. Insofern könne das Internet einen sinnvollen Resonanzen-Mechanismus haben.
Einig waren die Diskutanten sich darin, dass das Internet als Medium zur Herstellung von Demokratie noch in den Kinderschuhen steckt. So pessimistisch wollte man sich aber vor laufender Kamera und eingeschalteten Mikrofonen nicht geben, was besonders paradox ist, da es doch um Transparenz und Bürgerbeteiligung ging.