In den USA experimentiert Medium.com mit der Debatte über ein politisches Reform-Vorhaben, aber auch deutsche Anbieter setzen auf den Austausch von Argumenten.
Aus der Perspektive von Öffentlichkeitstheorien, die an vernünftigen Diskursen interessiert sind, ist es gewissermaßen der heilige Gral der Online-Kommunikation: das Format der Debatte als aufgeklärter Austausch von Argumenten zwischen Bürgern, Experten und politischen Entscheidungsträgern. Viele Akteure und Angebote haben sich bereits an der richtigen Kombination von technischen sowie organisatorischen Maßnahmen versucht, nun startet Medium.com eine themenspezifische Konversationsoffensive. Im Mittelpunkt steht dabei mit der “Medium Town Hall” ein Live-Blogging-Event.
Mit einem Beitrag unter dem Titel “Let’s talk about the criminal justice system” kündigte eine Medium-Mitarbeiterin die Initiative an. Ausgangspunkt ist ein Gesetzesvorhaben, mit dem einige Aspekte des Strafrechts liberalisiert werden sollen. Darüber muss auch der Senat der Vereinigten Staaten abstimmen. Im Vorfeld soll nun insbesondere über die Höhe von Mindeststrafen und die Bestrafung von Drogendelikten diskutiert werden. Neben Senatoren, von denen diejenigen genannt werden, die auch ein Profil bei Medium unterhalten, wurden weitere Akteure um Stellungnahmen gebeten: Medien sowie Nichtregierungsorganisationen, die sich mit dem Thema beschäftigen, aber auch persönlich oder beruflich Betroffene sollen sich selbst mit Postings auf der Plattform zu Wort melden.
Debatten als kommunikative Königsdisziplin
Nicht von ungefähr nimmt Medium als Aufhänger für sein Experiment ein konkretes Gesetzesvorhaben: Im engeren Sinne zielen Debatten auf einen strukturierten Prozess, in dem Argumente für und gegen die Sache vorgetragen, respektive kontroverse Standpunkte zu einem Thema artikuliert werden. Genau genommen dienen sie der Vorbereitung einer Abstimmung und vollziehen sich in Anwesenheit der Teilnehmenden (zum Beispiel im Parlament). Im weiteren Sinne sind es Debatten, aber auch in den Medien ausgetragene Deutungskontroversen, bei denen Experten mit relevanter Reputation und Reichweite wechselseitig auf öffentliche Äußerungen Bezug nehmen.
Welche dieser Bezugspunkte sich zur Beschreibung der Initiative von Medium eher eignet, wird sich erst im Anschluss an das Experiment einigermaßen beurteilen lassen. Die Organisatoren vertrauen zunächst auf Tools und Praktiken, die auf der Plattform sowieso genutzt werden. Dazu gehören vor allem “Tags” (z.B. “Criminal Justice Reform”), Reaktionen auf Einträge (“Responses”) sowie Anmerkungen und Empfehlungen. Insofern entfaltet sich das kommunikative Geschehen eher unübersichtlich und dezentral. Es ist sogar darauf angelegt, die Plattform zu verlassen, weshalb auch ein Facebook-Profil (Medium Politics) eingerichtet wurde. Diese Orientierung unterscheidet die Aktion von vielen Debattenformaten in Medien und Politik, die eher darauf ausgerichtet sind, durch die Konzentration der Kommunikation an einem (virtuellen) Ort die Bezugnahme der Beteiligten aufeinander zu akzentuieren. Allerdings existieren mit Blogparaden auch davon abweichende Vorstellungen.
Bezugspunkt Bürgerversammlung
Die Zusammenführung der Artikulationen soll dann in der zweiten Woche durch ein zweitägiges Online-Event realisiert werden. Zur “Medium Town Hall” am 9. und 10. März 2016 heißt es:
“Imagine a live-blogging event: panel discussions bringing the best and brightest minds together to talk about the problems within the criminal justice system and how we might go about solving them. But we need you — the people of Medium — to make this a real Town Hall meeting. Your questions, reactions, responses are what’s going to fuel this event and make it awesome.”
Dafür existiert ein eigenes Profil, auf dem die Inhalte von ausgewählten Beiträgern in Form einer Panel-Struktur zu bestimmten Zeitpunkten publiziert werden. Auf diese Beiträge kann dann jeder via Medium reagieren oder einzelne Akteure mittels “@Mention” adressieren.
Der Untertitel des Town Hall-Profils (“Where Medium’s community can present ideas, ask questions, and voice opinions.”) deutet bereits an, dass Folge-Veranstaltungen zu anderen Themen geplant sind. Insgesamt weist das Wording darauf hin, dass es sich bei der Debatte vor allem um einen Katalysator für das Konversations-Konzept von Medium handelt, mit dem sich die Plattform von anderen Angeboten unterscheiden will (siehe hierzu den Netzpiloten-Beitrag “Medium.com: Blog-Plattform oder soziales Netzwerk?”). Ebenso wie die US-Präsidentschaftswahl auch als Showroom für Online-Anwendungen aller Art fungiert, will Medium seine kommunikativen Stärken dem Säurebad des politischen Streits aussetzen: Wenn sich die Tools tatsächlich dafür eignen, eine emotionalisierte Debatte ums Strafrecht produktiv zu führen, was sollte dann nicht dort verhandelt werden können?
Profilierung durch politische Debatten-Formate?
Damit ist auch die Frage angesprochen, wie das Ereignis evaluiert werden kann. Dazu hat sich – ebenfalls bei Medium – bereits der Digital-Stratege Mike Connery geäußert. Er formuliert diverse Erfolgskriterien. Dazu gehört einerseits der Impact, den die Debatte im Hinblick auf das Thema entfaltet und der sich gar im Gesetzgebungsprozess oder auch in der Veränderung der öffentlichen Problemwahrnehmung manifestieren könnte. Andere Aspekte beziehen sich vor allem auf die diskursive Qualität der Debatte: Ob sie etwa dazu geeignet ist, die für soziale Medien relevante Problematik der sogenannten “Filter Bubble” zu überwinden und alle für das Politikfeld relevanten Stakeholder einzubeziehen. In diesem Zusammenhang benennt Connery auch die hidden agenda der Veranstaltung:
“For Medium in particular, this project is part of a bid to become the platform of choice for thought leaders and stakeholders seeking to mold public opinion. Medium is putting a lot of muscle into ensuring that those key players are on the platform for the next two weeks. The question is, do they stay?”
Mit seinem Vorzeigeprojekt steht Medium jedenfalls aktuell nicht alleine da. Ähnlich ambitioniert ist das in der Beta-Phase befindliche “Debattenportal Causa” des Berliner Tagesspiegel. Die Macher setzten dabei auf eine ähnlich wie bei Medium zusammengesetzte Autorenschaft, die sich zu kontroversen Themen äußert. Ein Schlüsselelement ist die wechselseitige Bewertung, der von den Autoren vorgetragenen Argumente und die visuelle Verortung der Positionierungen in interaktiven Grafiken. Dieses Tool erscheint auf den ersten Blick recht komplex und bedarf vermutlich für eine breitwirksame Nutzung weiterer Versionen. Die Mittel für einer Weiterentwicklung stehen jedenfalls bereit, denn das Projekt wird im Rahmen der Digital News Initiative von Google finanziell gefördert.
Dies ist ein Crosspost von netzpiloten.de. Der Artikel ist zuerst dort erschienen.
Bild: geralt unter Lizenz: CC0 Public Domain