Was als Kritik über den Blog „altonabloggt“ begann führte nun bis zur Vorsprache einer Petition im Deutschen Bundestag: Inge Hannemann, von den Medien nur die „Hartz IV-Rebellin“ genannt, trug letzte Woche im Petitionsausschuss öffentlich ihre Petition zur Abschaffung von Hartz IV-Sanktionen vor. Ein gelungenes Beispiel für politischen Online-Aktivismus.
Alles begann mit der Unzufriedenheit über eine Praxis, innerhalb der Inge Hannemann sich selbst bewegte. Seit 2005 arbeitete sie in verschiedenen Jobcentern und war zuletzt im Jobcenter Hamburg-Altona als Arbeitsvermittlerin beschäftigt. Sie will die unmenschliche Behandlung, die Erzeugung von Angst und existentieller Erpressung der Menschen in Jobcentern ändern, stößt aber auf die institutionellen Grenzen der Behörde für die sie arbeitet. Also fängt sie 2011 an öffentlich darüber zu schreiben, genauer: zu bloggen. Ihre Kritik veröffentlicht sie seit April 2012 zentral auf der Seite „altonabloggt“. Um mehr Öffentlichkeit zu erzeugen, verschärft sie Anfang 2013 den Ton. In einem öffentlichen Brief, der als „Brandbrief“ bekannt ist, greift sie die Bundesagentur für Arbeit direkt an: „Menschenunwürdiges und gedankenloses Handeln, wie es tagtäglich in den Jobcentern geschieht, macht krank. Bedrohungen, Angst vor Sanktionen und die Behandlung als Mensch zweiter, dritter, vierter Klasse durch die Jobcenter führen nicht in Arbeit, sondern in die totale Verweigerung, in ständige Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, in die Resignation, in die Wut bis zum Suizid.“
Das „System Hartz IV“ als Verstoß gegen die demokratischen Grundrechte
Was kritisiert Hannemann? Zunächst die gegen die Menschenwürde verstoßende Behandlung der Erwerbslosen, etwa die Idee der Schrittzähler für „faule“ Arbeitslose oder die Verlosung von Arbeitslosen auf dem Weihnachtsmarkt. Darüber hinaus die Leistungskürzungen bei nicht eingehaltenen Terminen, bei Zwangsmaßnahmen des Jobcenters oder nicht angenommenen Jobangeboten im Niedriglohnsektor. Durch Eingliederungszuschüsse für Arbeitgeber befördere der Staat kurzfristige, ausbeuterische Beschäftigungsformen in Zeitarbeitsfirmen und finanziere damit Armut, Niedriglöhne und moderne Sklavenarbeit. Der primäre Effekt dessen sei ein „Drehtüreffekt“, durch den Erwerbslose nach wenigen Monaten wieder auf Sozialleistungen angewiesen sind.
Hannemann ist durchaus auch als Whistleblowerin anzusehen. Sie macht eine institutionelle Praxis öffentlich, die sonst nur die betroffenen Menschen tagtäglich erfahren, weist auf Missstände und Fehlentwicklungen hin. Dabei zitiert sie auch aus internen Weisungen und Dokumenten des Arbeitsalltags der Jobcenter. Als Beteiligte nimmt sie nicht nur diejenigen wahr, die auf Hilfeleistungen angewiesen sind, sondern auch die Mitarbeiter_innen der Jobcenter, die ihre Mitmenschen als Fall behandeln, in Zahlen und Statistiken messen und mit Sanktionen bestrafen müssen. Im April 2013 wird sie wegen ihrer Kritik und der Weigerung, bestimmte Sanktionen gegen Erwerbslose zu verhängen, vom Dienst suspendiert.
Seit der „Freistellung“ von ihrem Arbeitsplatz ist Inge Hannemann eine gefragte Rednerin, hält viele Vorträge über das „Unrechtssystem Hartz IV“. Es finden sich unzählige Vollzeit-Videos mit ihren Vorträgen sowie Interviews bei Youtube. Im September 2013 wird ihr für politisches Engagement der taz-Panter-Preis für Zivilcourage verliehen.
Die Abschaffung der Angst
Hannemanns Mission und Vision ist die Abschaffung von Hartz IV. Aus der „Agenda 2010“ resultiere ein Machtgefälle zwischen Mitarbeiter_innen der Jobcenter und Erwerbslosen – Hilfeleistungen seien auch ohne „existentielle Erpressbarkeit“ möglich. In den Jobcentern hingegen bestehe ein „mit Schuld- und Schamgefühlen gepaartes Angstklima.“ Diese Praxis widerspreche den Grundrechten einer demokratischen Gesellschaft.
Am 23.10.2013 setzt sie daher als ersten Schritt eine E-Petition zur Abschaffung der Hartz IV-Sanktionen auf. Die Möglichkeit, eine öffentliche E-Petition über das mittlerweile erfolgreichste Internetangebot des Deutschen Bundestags zur Mitzeichnung zu stellen, besteht seit 2005. Dabei muss innerhalb von 4 Wochen ein Quorum von 50.000 Unterschriften erreicht werden, was kaum ohne Öffentlichkeitsarbeit gelingt. Deswegen werden in den letzten Jahren verstärkt Soziale Netzwerke zur Verbreitung der Anliegen hinter E-Petitionen genutzt. Schon seit dem 09. März 2013 ist Inge Hannemann auch bei Facebook vertreten. Dort hat sie eine Community von mehr als 12.000 Menschen aufgebaut. Zur Petition gab es ab 20.11.2013 auch ein Facebook-Event, das zur Unterstützung aufrief.
Zusätzlich vernetzt sie sich stärker mit der gesellschaftlichen Bewegung gegen Hartz IV, die sich bereits seit ihrer Entlassung mit ihr solidarisiert hat: Ein Netzwerk aus Erwerbsloseninitiativen, Gewerkschaften, Mitglieder von Parteien sowie auf einen persönlichen und bundesweiten Unterstützer_innen-Kreis. Die Petition wird auch als Unterschriftenliste verbreitet und Hannemann sammelt selbst Unterschriften vor den Jobcentern der Bundesrepublik. Die Petition erreicht über 90.000 Unterschriften, 55.271 Stimmen wurden online, 34.515 offline abgegeben. Ohne die Möglichkeit der Onlineabstimmung, hätte sie also vermutlich das Quorum nicht erreicht.
Letzte Woche Montag, am 17.03.2014, sprach sie nun in einer öffentlichen Sitzung des Petitionsausschuss zu ihrer Petition vor. Der Ausschuss wird in der nächsten Sitzung darüber entscheiden, ob die Petition im Bundestag behandelt wird. Der parlamentarischen Staatssekretärin des Ministeriums für Arbeit und Energie zufolge, steht die Regierung der Abschaffung von Sanktionen weiterhin ablehnend gegenüber. Hannemann macht indessen weiter mit ihrer Kritik. Frei nach dem Motto, unter dem die Verleihung des Clara-Zetkin-Frauen-Preises steht, der ihr von der Partei DIE LINKE 2014 verliehen wurde: „Erst recht“.
Bilder: oben: altonabloggt/Facebook-Seite Inge Hannemann sowie Facebook Event: „Abschaffung der Sanktionen und Leistungseinschränkungen“