Alle reden vom neuen Jahrtausend und dem Aufbruch in eine neue Epoche,
doch wir schauen nochmal zurück. Der Historiker Karsten Pöhl betrachtet
die letzte Jahrtausendwende, sieht Analogien zu heute und wagt einen
Ausblick auf das neue Jahrtausend.
Die christliche Welt beschließt
ihr zweites Jahrtausend. Streng mathematisch beginnt das neue
Jahrtausend erst am 01.01.2001. Aber das war für mich kein Grund,
Spielverderber zu sein gegenüber denen, die schon am Beginn dieses
Jahres das neue Jahrtausend feiern wollten.
Der Wechsel in das 3. christliche Jahrtausend ist gleichwohl nicht für
alle Menschen bedeutsam: Juden, Moslems und Buddhisten haben ihren
eigenen – gleichfalls religiös begründeten Kalender.
das Jahr 1000
Die
Ängste mancher vor den Gefahren der Nacht zum 1.1.2000 waren, wie wir
heute wissen, übertrieben. Die Weltuntergangsangst der Menschen bei der
ersten Jahrtausendwende vor 1000 Jahren ist von heutigen Autoren
übertrieben worden: nur einige Kleriker gaben sich wohl solchen Ängsten
hin (und redeten evtl. diese der Bevölkerung ein): die ständige Angst
der Masse der Bevölkerung war die vor Mißernten und Hunger, so daß z.
B. noch eine Generation nach dem Jahrtausendwechsel in Burgund das
Vorkommen von aus schierer Not geborenem Kannibalismus bezeugt ist.
Wie sah es im Jahr 1000 in Europa aus? Polen und Ungarn waren unlängst
zum Christentum übergetreten. In Deutschland und Frankreich entwickelte
sich das klösterliche Leben, das unter den kriegerischen Einfällen der
Wikinger im 9. und der Ungarn im 10. Jahrhundert gelitten hatte, von
neuem. Für die Entwicklung der feudalen Ordnung markierte das Jahr 1000
keinen Einschnitt.
War das Jahr 1000 überhaupt ein wichtiger Einschnitt? Um 1000 waren
viele der wichtigsten Weichen für die nächsten Jahrhunderte, gar das
ganze 2. Jahrtausend noch nicht gestellt: Der Konflikt zwischen Papst
und Kaiser hatte noch nicht begonnen, Ketzer und Hexen/Hexer wurden
noch nicht systematisch verfolgt, der erste Kreuzzug war noch nicht
absehbar (er beginnt 1095), die Ost- und die Westkirche waren noch
nicht getrennt, auch die überragende Stellung des Papstes in der
westlichen Kirche war noch nicht gesichert, der Zölibat war noch nicht
durchgesetzt! 100 Jahre später – im Jahre 1100 – hatte sich all dies
grundlegend geändert. Eigentlich hat also das historische 2.
Jahrtausend irgendwann zwischen 1054 (Kirchenschisma) und 1095
begonnen.
Jahrhunderteinteilung gängiger
Historiker zählen gern nach Jahrhunderten, nicht nach Jahrtausenden,
wobei die Jahrhunderte der Geschichtsschreibung länger oder kürzer sein
können: als das längste gilt das 19. Jahrhundert, das die Zeit von 1789
bis 1914 umfaßt. Das 20. gilt manchen als kurzes Jahrhundert: sie
lassen es nur von 1914 bis 1989 dauern. Gewiß war es das
US-amerikanische Jahrhundert. Auch andere Jahrhunderte lassen sich
vielleicht Ländern oder Völkern zuordnen: das 16. Jahrhundert Spanien,
das 17. Frankreich, das 18. England. Schon das 19. Jahrhundert ist
nicht das Jahrhundert eines Landes, sondern das Jahrhundert Europas
(und seines Imperialismus): Europa beherrschte große Teile der Welt und
beeinflußte den Rest. In Europa selbst gaben fünf Länder – Frankreich,
England, Preußen, Rußland und Österreich – den Ton an. Für das 21.
Jahrhundert, jedenfalls für seine ersten Jahrzehnte, stellen sich viele
eine tripolare Welt mit Nordamerika, Europa und Ostasien als Zentren
vor.
das 20. Jahrhundert
Das 20. Jahrhundert war die Zeit der größten Weltgeltung der USA,
erstaunlich einförmig eigentlich: Im Krieg gegen Spanien erringen die
USA 1898 ihre ersten Kolonien, die beiden Weltkriege stärken die USA
(und schwächen Europa), der kalte Krieg endet durch den Zerfall des
gegnerischen Blocks. Das Deutschland von 1900 stand im internationalen
Vergleich recht gut da: die Leistungen von Wirtschaft, Wissenschaft und
Schulen waren beachtlich. Der Grundstein der Sozialversicherungen war
schon gelegt. Das Fehlen eines großen deutschen Kolonialreichs, so
wissen wir heute, war eigentlich nicht so gravierend, wie es damals den
Eliten schien (Frankreich z. B. hat in sein Kolonialreich mehr
investiert, als es insgesamt an wirtschaftlichem Nutzen gehabt hat).
Allein auf dem Weg der politischen Demokratisierung konnte sich
Deutschland mit den Vorreitern in Europa und mit den USA nicht messen.
Das wäre aber – angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung und des
guten Bildungssystems – im Rahmen einer Reformpolitik gut behebbar
gewesen – wenn die Machteliten dies akzeptiert hätten! Nur mit
Frankreich stand Deutschland in einem unauflösbaren Konflikt über
Elsaß-Lothringen. Nach der Niederlage von 1918 kam Deutschland nicht
mehr zur Ruhe. Wir alle kennen die traurigen, bitteren Stationen der
nächsten Jahrzehnte: Wirtschaftskrise, Diktatur, Judenmord, Krieg,
Besetzung, Vertreibung, Teilung. 1949 in jeder Weise geschwächt, hat
sich Deutschland seitdem weitgehend in dieselbe Richtung entwickelt wie
alle westeuropäischen Ländern: wirtschaftliche Entwicklung und mehr
Demokratie, flankiert von einem Ausbau des Bildungssystems und des
Sozialstaats.
das 21. Jahrhundert
Was kommt im neuen Jahrhundert? Nach 1989 florierten in den USA ein
paar seltsame Zeitdeutungen mit Anspruch auf weltweite Gültigkeit. Der
amerikanische Politologe Fukuyama sprach vom "Ende der Geschichte" – wo
doch eher, etwa auf dem Balkan, eine Wiederkehr der Geschichte
eingetreten ist. Und sein Kollege Huntington kündigte den "Kampf der
Kulturen" an, eine vergröbernde Darstellung der gegenwärtigen
Konflikte, in denen die Interessen von Staaten, Unternehmen und Gruppen
mindestens ebenso starke Triebkräfte sind wie die kulturellen
Unterschiede zwischen anhand von Religionen definierten Großräumen.
Mir selbst scheint ein Gegensatz innerhalb unserer eigenen, westlichen
Kultur wieder stärker aufzubrechen: der zwischen Marktwirtschaft und
Demokratie. Manche wollen diesen Gegensatz leugnen. Aber die Bürger der
meisten Staaten Lateinamerikas und Asiens wissen, daß Marktwirtschaft
und Orientierung am Weltmarkt durchaus jahre- und jahrzehntelang ohne
Demokratie funktionieren können. Marktwirtschaft ist die
individualistische, Demokratie die kollektive, die Volkssouveränität
betonende Variante des Liberalismus. Beide sind also Geschwister. Aber
Konflikte in der Familie können ja besonders heftig sein.