Die mittlerweile relativierte Bezugnahme von Innenminister Horst Seehofer auf „die Gamerszene“ im Zusammenhang mit der schrecklichen Gewalttat in Halle sahen einige KommentatorInnen als Renaissance der alten „Killerspiel-Debatte“. Sie ist jedoch mehr. Sie ist Ausdruck eines Phänomens, mit dem Politik und Gesellschaft nicht umzugehen wissen.

Verwirrung

Der Täter von Halle ist bekennender Gamer. Er ist aber auch Anhänger rechtextremer und antifeministischer Verschwörungstheorien, mit denen er voraussichtlich im Internet in Berührung kam. Zwei Dinge, die nicht unmittelbar miteinander zu tun haben, Horst Seehofer allerdings dazu verleiteten, problematischen Aussagen über die zu verstärkende Überwachung potenzieller Täter aus „der Gamerszene“ zu treffen. In der Diskussion darüber wurden Gaming- und Internetkultur vermischt. Begriffe, die zwar nicht ganz trennscharf zu verwenden sind, die sich aber unterscheiden. Die Unterschiede klarzustellen hilft, eben diese Begriffe zu erklären, vor allem, wenn große Teile der Gesellschaft eigentlich keine Ahnung haben, was sie bedeuten.

Unschuldig schuldig

Zu behaupten, dass der Amoklauf in Halle überhaupt nichts mit Gamingkultur zu tun hätte, wäre falsch. Nicht ohne Grund wurde der Amoklauf wie ein Let’s Play Video inszeniert. Ein Unterhaltungsformat, bei dem Gamer*innen Videospiele spielen, sich und das Geschehen auf ihrem Bildschirm filmen, während sie es kommentieren. Nicht ohne Grund übertrug er seine Taten über twitch live ins Internet. Eine Streamingplattform, die GamerInnen nutzen, damit ihnen andere Gamer*innen in Echtzeit beim Zocken zuschauen können. Nicht ohne Grund äußerte der Täter antifeministische Statements. Als Journalist*innen über frauenfeindliche Tendenzen in der Computerspielbranche berichteten, sahen sie sich Hasskampagnen von Teilen der Gaming-Community ausgesetzt.

Daraus zu schlussfolgern, dass die Gaming-Community zu großen Teilen aus potenziellen, extremistischen Terrorist*innen besteht wäre ebenso falsch. Gaming ist ein Massenphänomen. Extremistisches Gedankengut existiert dort, weil es auf gesellschaftlicher Ebene existiert. 34 Millionen Menschen in Deutschland gaben an, mindestens gelegentlich Computer- und Videospiele zu spielen, sind sie deswegen eine Gefahr? Sicherlich nicht.

Gefahr von Rechts

Gefährdet sind vor allem junge Menschen, die in der realen Welt wenig sozial integriert sind. Diese sind anfälliger für radikale Inhalte, was sich jene zu nutzen machen, die extremistische Ideologien gezielt über das Internet verbreiten, denn dort lassen sich soziale Kontakte leicht knüpfen. Hier liegt die Gefahr. Vor allem rechtsextreme Aktivist*innen bedienen sich an Elementen der Internetkultur, die auch in der Gaming-Community verbreitet sind. Dabei geht es weniger um rassistische oder sexistische Hatespeech in sozialen Netzwerken, sondern um subtilere Formen der digitalen Kommunikation. Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang das Meme: Bilder, die mit kurzen, pointierten Texten versehen sind. Diese werden von Rechtsextremen dazu benutzt, um Personen bzw. Personengruppen zu diffamieren. Der oft sehr zynische Charakter digitaler Kommunikationskultur, der explizit gegen gesellschaftliche Normen und Sitten verstößt, spielt ihnen dabei in die Hände.

Während soziale Netzwerke wie Facebook oder Twitter, wenn auch unzureichend, verleumdende Inhalte löschen, florieren Memes mit extremistischen Inhalten auf Imageboards so gut wie ungestört. Imageboards sind Plattformen, die ähnlich wie Internetforen in Boards und Subboards (ähnlich Pinnwänden) gegliedert sind. In diesen Subboards werden hierarchisch strukturierte Beiträge (Threads) gesammelt, in denen meist ausschließlich Bilder bzw. Memes gepostet werden, die Benutzer dann kommentieren können.

Ein neues Phänomen

Das mittlerweile nicht mehr erreichbare Imageboard 8chan war eines der meistbesuchten. Rund 1 Millionen Benutzer*innen waren dort registriert. Das Besondere: Die Themen erstellten die User selbst und zwar vollkommen anonym. Natürlich existierten dort auch Subboards über Gaming, die gesellschaftliche und popkulturelle Bedeutung von Computerspielen ist enorm. Man hätte wahrscheinlich auch zweifelhafte Inhalte gefunden, die schiere Masse an Kosument*innen schließt auch Radikale mit ein.

Zu einem echten Problem wurde aber vor allem ein anderes Subboard: /pol oder „political incorrect“. Dieses wurde von rassistischen, sexistischen und homophoben Memes geradezu überflutet, durch die sich die Benutzer*innen in ihrer von brutalen Gewaltfantasien und bizarren Verschwörungstheorien geprägten Selbstwirklichkeit gegenseitig bestätigten. „/pol wird eindeutig von Neonazis moderiert. Das zeigt sich daran, dass andauernd Swastikas und andere NS-Symbole zu sehen sind und niemand etwas dagegen tut. Auch sonst wird dort Nazi-Ideologie besprochen. Es ist ein Neonazi-Board unter dem Deckmantel der freien Meinungsäußerung“, sagte der Entwickler des Boards, Fredrick Brennan, in einem Interview für ZEIT Online. So konnte sich so eine düstere Subkultur bilden, die Amokläufe anhand der getöteten Opfer bewertet. Je mehr Tote, desto höher das Ranking.

Die Attentäter von Christchurch, Poway und El Paso kündigten ihre Taten zuvor über 8chan an, der von Halle über ein kleineres, unbekanntes Imageboard. „Ich bin mir sicher, dass sich die vier Attentäter auf dem 8chan-Board /pol radikalisiert haben“, sagte Brennan. Diese Art der rechtsextremen Selbstradikalisierung ist neu. Der Bezug zu Computerspielen sozusagen das Stilmittel eines neuen Tätertyps. Schuld hat weder Gaming noch das Internet per se. Diese bilden Freiräume, welche Extremist*innen für ihre Zwecke ausnutzen, in dem sie sich an Sprache und Codes der beiden Kulturen bedienen.

Bild: Photo by Fibonacci Blue on flickrCC-BY 2.0