Die Gewerkschaft IG-Metall rüstet sich fürs Online-Zeitalter
Gewerkschaften tragen oft schwer an ihrem öffentlichen Image. In einer Zeit, in der sich die Industriegesellschaft mit
großem Tempo zu einer Informationsgesellschaft entwickelt, wirken die traditionsreichen Organisationen der
Arbeitnehmervertretung für manche wie ein Anachronismus. Dynamik und Innovationsbereitschaft werden von der
öffentlichen Meinung eher den Lenkern der aufstrebenden Wirtschaftsunternehmen zugetraut, die auf neuen Märkten
agieren und den wirtschaftlichen Wandel zu ihrem Business gemacht haben. Betriebsräte und Gewerkschaftsfunktionäre,
die in diesen turbulenten Zeiten über die hart erkämpften Rechte der Arbeitnehmer wachen, werden dagegen oft als
unflexible Verfechter eines überholten Sozial-staatesmodells kritisiert.
Doch einige Arbeitnehmervertretungen haben inzwischen begonnen, dem ‘alten’ Image mit Hilfe der ‘neuen’ Medien
entgegenzutreten. Besonders eindrucksvoll zeigt sich dies am Beispiel der IG-Metall: Die mit rund 2,7 Millionen
Mitgliedern größte deutsche Einzelgewerkschaft präsentiert sich bereits seit 1996 im Internet und stellt dabei in
Sachen Innovationsbereitschaft die meisten anderen politischen Akteure in den Schatten. Die zentrale Schaltstelle
für diese Aktivitäten ist dabei die Online-Redaktion der Metallgewerkschaft. Deren Leiterin, Regina Droge, versteht
ihre Arbeit als Vermittlung zwischen den Fachabteilungen der Organisation und ihrem zentralen Internet-Angebot.
Droge erklärt: "Wir fungieren als eine Schnittstelle. Die Abteilungen kommen mit Vorschlägen für Online-Informationen
zu uns und wir beraten, koordinieren und organisieren die nötigen Aktionen. Beispielsweise haben die meisten
Fachabteilungen für ihre Zielgruppe, seien es nun Frauen, Betriebsräte oder Behinderte, spezielle Seminare anzubieten.
Wir arbeiten darauf hin, daß wir alle in einer interaktiven Online-Bildungsdatenbank zusammenfassen, auf die dann aus
den einzelnen Spezialbereichen heraus verlinkt wird." Andererseits, so Droge, tritt aber auch die Internet-Redaktion mit
eigenen Vorschlägen an die Fachabteilungen heran: "Wenn es in einem Bereich ‘scharfe’ neue Informationen gibt, dann müssen
wir die Kollegen auch aktiv dazu motivieren, daß sie die zusammen mit uns für das Internet aufbereiten."
Das Zauberwort bei dieser Art der Organisation heißt ‘abteilungsübergreifendes Querschnittsdenken’ ein Prinzip, das in
einer hierarchisch organisierten Gewerkschaften sicher nicht ganz einfach durchzusetzen ist. Doch Regina Droge weiß,
daß sich in einem guten Internet-Auftritt nicht die traditionellen Hoheitsgebiete einer Organisation widerspiegeln
dürfen: "Das wäre viel zu bürokratisch. Die Nutzer müssen merken, daß das Angebot speziell für sie gemacht ist, und
dafür muß man in so einem Laden auch flexibel sein." Viel Zeit setzt die gelernte Journalistin, die als freie
Kommunikationsberaterin tätig ist, daher dafür ein, die Mitarbeiter im Frankfurter Hauptquartier der Gewerkschaft
für das neue Medium zu begeistern und den Gedanken des Querschnittsdenkens innerhalb der gewerkschaftlichen
Informationshierarchie zu fördern. Ihr Anliegen wird offenbar geteilt, denn das gewerkschaftliche Online-Angebot
entwickelt sich rasant in diese Richtung: Im Februar 1999 riefen interessierte Surfer bei der IG-Metall rund 5.700
Megabyte an Informationen von mittlerweile über 3.000 Info-Seiten ab, von denen viele von den Fachabteilungen in
eigener Regie erstellt wurden. Die Nutzungszahlen des Angebotes haben 1999 erstmals die Schallgrenze von 1,5 Millionen
monatlichen Hits durchbrochen. Die Seiten der Metallgewerkschaft sind damit ähnlich populär wie beispielsweise die der
Umweltorganisation Greenpeace, und können fast schon den Online-Angeboten der großen Volksparteien Paroli bieten. Regina
Droge: "Für uns liegt hier ein besonderer Vorteil, denn in den traditionellen Medien haben Ge-werkschaften viel geringere
Chancen als andere Akteure, ihre politische Positionen einen breiten Publikum authentisch darzustellen. Im Internet kommen
wir besser zum Zug."
Mitgliederservice
Ein vielschichtiges Internet-Angebot wie das der IG-Metall hat natürlich auch eine vielschichtige Zielsetzung. Wenn man
sie aber in einem Wort zusammenfassen müßte, dann hieße dieses Wort: ‘Mitgliederservice’. Regina Droge: "Ganz klar, unser
Stammpublikum sind und bleiben die Mitglieder und Aktiven, die sich im Internet über ‘ihre’ IG-Metall informieren wollen.
Und da sich die WWW-Seite aus den Beiträgen der Mitglieder finanziert, müssen deren Interessen auch besonders
berücksichtigt werden." Die strategisch wichtigsten Elemente des Angebotes sind daher diejenigen, die genau auf die
Informationsbedürfnisse bestimmter Mitgliedergruppen zugeschnitten sind und ihnen einen echten, medienspezifischem
Zusatz-Nutzen bieten. Dazu zählt allen voran die interaktive
Tarifdatenbank, in der sich die Besucher über die sie betreffenden Einzelheiten
tariflicher Regelungen informieren können. Solche Service-Angebote sollen nach den Vorstellungen von Regina Droge auch bei
der strategischen Weiterentwicklung der Internet-Seiten eine Schlüsselrolle spielen: So könnte die Tarifdatenbank in
Zukunft um einen passwort-geschützten Exklusivbereich erweitert werden, in dem Mitglieder über die allgemeinen Auskünfte
hinaus auch Antworten zu ganz individuelle Fragen fänden. Regina Droge: "Natürlich bleiben viele Informationen frei
zugänglich, schließlich sollen alle sehen, was die IG Metall für die Arbeitnehmer erreicht. Aber wir brauchen
mittelfristig auch mehr geschlossene Bereiche für die zahlenden Gewerkschaftsmitglieder. Die wollen zurecht mehr
bekommen als die Nicht-Mitglieder."
Auch die medialen Eigenschaften einer Hypertext-Struktur werden vom Online-Angebot der IG-Metall genutzt, um den
speziellen Bedürfnissen einer großen und vielfach unterteilten Mitgliederorganisation gerecht zu werden.
Hypertexte bieten ideale Bedingungen, um die oft sehr unterschiedlichen Informationsinteressen aller unter dem Dach
der Gewerkschaft organisierten Berufsgruppen zu bedienen. Regina Droge: "Wenn eine Print-Mitgliederzeitung vier Seiten
über die Probleme der Zahntechniker druckt, dann ist dieser kostspielige Platz für die große Mehrheit der Leser aus
anderen Berufen uninteressant verwendet. Im Internet sind die Voraussetzungen anders: Wenn man einen Hypertext gut
gliedert, dann kann man auch für die kleinsten Zielgruppen noch massenweise Spezial-Information anbieten, ohne daß das
auf Kosten anderer Angebote geht und ohne daß sich jemand langweilen muß und das Gefühl hat, "die sprechen ja mich nicht
an". Der Platz ist unbegrenzt und jeder braucht ja schließlich nur das anzuklicken, was er wirklich sehen will." Für die
interne Öffentlichkeitsarbeit der IG-Metall sind diese neuen Möglichkeiten enorm interes-sant, denn, so Droge: "Auch
kleine Gruppen von Mitgliedern und Betriebsräten können strategisch für die Gesamtorganisation äußerst wichtig sein."
Die klare Service-Orientierung der IG-Metall-Seiten belegt auch ein Blick auf die Außenvernetzung des Angebotes: Die
Verknüpfungen zu fremden Servern z.B. im Link-Punkt-Arbeit dienen als vielfältiges
Sprungbrett zu themenverwandten Informationen. Dabei werden in der Regel nicht nur die Front-Seiten der externen Angebote
angesteuert, sondern die Surfer werden direkt zu den die für sie relevanten Verzweigungen in den Fremdangeboten
verwiesen. Regina Droge: "Wir wollen Quali-tätslinks bieten, auch wenn das für uns einigen Arbeitsaufwand bedeutet.
Unsere Mitglieder haben manchmal ganz spezifische Fragen, zu denen sie bei uns nichts finden. Da müssen wir sie doch
zumindest dorthin führen, wo ihnen ge-hol-fen wird." Berührungsängste treten hinter diesem Servicegedanken offenbar
in den Hintergrund: Vom IG-Metall-Server besteht beispielsweise eine direkte Verbindung zu den Seiten der
Unternehmensberatung Kienbaum Management Consultants GmbH. "Die sind mit uns ideologisch sicher nicht auf einer Linie,
aber warum sollen unsere Leute nicht von den Bewerbungstips profitieren, die Kienbaum im Internet anbietet? Die
Nutzer sehen eine solche ideologie-freie Verlinkung doch auch als einen Service der IG-Metall an, und so tut es auch
gar nicht weh, sie aus dem Angebot zu entlassen: Sie gehen mit gutem Gefühl, und das ist wichtig."
Besonderen Wert legt die Online-Redaktion der IG-Metall auch auf die dialog-orientierten Elemente ihrer Seite. Ein
elektronischer Briefkasten, ein Gästebuch, offene Foren, Streitfragen zu vorgegebenen Themen (zur Zeit Kosovo) sowie
passwortgeschützte Diskussionszirkel für spezielle Zielgruppen: Hier werden alle Möglichkeiten des Mediums ausgeschöpft.
Besonders die geschlossenen Angebote für Betriebsräte oder für die gewerkschaftlich organisierten Mitarbeiter bestimmter
Unternehmen (z.B. DEBIS) belegen dabei wiederum die strikte Orientierung an den Interessen der Mitglieder und
Funktionsträger, an deren Wunsch nach paßgenauer Behandlung. Regina Droge erklärt: "Die Diskussionen in den
geschlossenen Foren sind ja nicht wirklich geheim. Diese Exklusivität hat natürlich auch etwas mit
Community-Building zu tun, man äußert sich freier, strategische Diskussion ist möglich, ohne daß der
Arbeitgeber zuhört, und nicht zuletzt dient ein exklusiver Zugang auch der ‘Adelung’ bestimmter interner Zielgruppen.
Wir bieten als IG-Metall eine technische Plattform, wo die sich selbst organisieren können und senden damit auch ein
politi-sches Zeichen an diese Mitgliedergruppen." Eingehende E-Mails versucht die Online-Redaktion dem Medium
entsprechend schnell – möglich binnen 24 Stunden – zu beantworten. Besonders löblich: Ein internes System zur
Verfolgung der Mail-Korrespondenz stellt sicher, daß jede einzelne Kontaktaufnahme mit einer Antwort gewürdigt
wird.
Daß man die Ergebnisse der Online-Kommunikation an die internen tarifpolitischen Entscheidungsprozesse der Gewerkschaft
ankoppeln könnte, das kann sich Regina Droge für die nahe Zukunft allerdings noch nicht vorstellen: "Angesichts des noch
geringen Anteils der Onliner unter den Mitgliedern wäre das nicht wünschenswert. Wichtig ist vielmehr, daß wir stets
erreichbar sind für spontane Stimmungs-äußerungen aus dem Netz. Das ist zwar nicht immer repräsentativ, aber wir spielen
mit diesen Möglichkeiten und zeigen uns offen. Das hilft uns, Mitglieder an uns zu binden und vielleicht sogar neue im
Netz zu werben."
Mit ihrem Internet-Engagement beweist die IG-Metall eindrucksvoll, daß sich die klassische Arbeitnehmervertretung und
technischer Fortschritt nicht beißen. Doch bei allem Enthusiasmus für ihr Online-Projekt bleibt Regina Droge in ihrer
Gesamteinschätzung des Mediums realistisch: "Auf absehbare Zeit können wir die traditionellen Informationskanäle
lediglich ergänzen, aber keinesfalls ersetzen. Zu wenige unserer Mitglieder nutzen bislang das Internet. Viele der
Arbeiter im Metallbereich gehören sicher zu der Bevölkerungsgruppe, die als letzte Online gehen wird."
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