Wie schützen sich die Bürger Syriens vor brutaler Repression? Wie kann der Westen helfen? Im Interview mit politik-digital.de fordert die spanische Menschenrechtsaktivistin und Bloggerin Leila Nachawati Europa auf, den Stimmen der Revolution zu lauschen.

Dieser Termin steht bei allen international renommierten Bloggern fest im Terminkalender: Die Berliner “re:publica” gilt als Europas größte Internet-Konferenz. Ein Schwerpunkt im Jahr 2012: Revolutionen – “re:volt”. Zu Wort kamen renommierte Blogger und Online-Aktivisten, Dissidenten sowie deren Unterstützer im Westen, die den Stimmen des Protestes weltweit Gehör verschaffen. Unter ihnen auch die spanische Menschenrechtsaktivistin, Bloggerin und Kommunikationsexpertin Leila Nachawati.

Nachawati schreibt für Global Voices Online, Periodismo Humano und Al-Jazeera. Aufgrund ihrer syrischen Herkunft setzt sie sich auch für eine Ausweisung aller syrischen Botschafter aus den Mitgliedsstaaten der EU ein. Bislang ohne Erfolg. politik-digital.de sprach Leila Nachawati kurz vor ihrem Vortrag auf der “re:publica” über das Recht der syrischen Gesellschaft, sich gegen die brutale Repression zur Wehr zu setzen.

 

politik-digital: Ägypten und Tunesien haben die ersten freien Wahlen seit Jahrzehnten erlebt. Wie steht es in diesen Ländern heute um die Bürgerrechte?

Nachawati: Die Bürgerrechte sind alles andere als gesichert. Revolutionen werden nämlich dann kompliziert, wenn eine Diktatur stürzt. Das klare Ziel lautet zunächst: Weg mit dem Regime! Doch sämtliche Ansätze der Zivilgesellschaft wurden in jahrzehntelanger Diktatur  zerstört. Es wird Jahre, vermutlich eine ganze Generation dauern, und viel Anstrengung im Bereich der Bildung kosten, bis die Bürger wirklich in die Institutionen vertrauen können. Ich finde es alarmierend, wenn die westlichen Medien manchmal von diesen Ländern bereits eine konsolidierte Demokratie erwarten. Keine Revolution kann von heute auf morgen ein bestehendes Unrechtsregime in eine stabile Demokratie wandeln.

politik-digital: Welche Akteure werden beim Aufbau demokratischer Strukturen besonderen Einfluss gewinnen?

Nachawati: Bis zu einem gewissen Punkt ist vorhersehbar, dass religiösen Parteien am ehesten Vertrauen entgegengebracht werden wird. Sie stellen die einzige bekannte Alternative zu den Regierungen dar, die niemals für den Schutz ihrer Bürger eingetreten sind, sondern im Gegenteil die Repression legitimiert haben. Auf der anderen Seite steht das Gesetz der Religion, bei dem nun viele Muslime Zuflucht suchen. Es ist für viele das einzig Verlässliche in einer Zeit, in der alles andere in Frage gestellt wird.

politik-digital: Der Westen unterstützt die Errungenschaften des Arabischen Frühlings. Gleichzeitig liefern westliche Firmen immer noch Überwachungstechnologie an die Autokraten der arabischen Länder. Haben wir es hier mit einem doppelten Standard zu tun?

Leila: Das ist eine interessante Frage. Normalerweise konzentrieren wir uns auf diplomatische und politische Möglichkeiten der Isolierung. Die Unternehmerseite spielt aber ebenfalls eine Rolle, da diese Akteure oft auf eigene Faust agieren. Große Unternehmen unterstützen und erhalten die technologische Infrastruktur in Nahost und Nordafrika. In diesen Staaten stammt 80 Prozent der Technologie aus den USA. Nun scheint die USA Kontrolle über den Export von Spionagetechnologie ausüben zu wollen. Der entsprechende Vorstoß aus dem Weißen Haus könnte ein erster positiver Schritt sein.

politik-digital: Reichen diese Maßnahmen aus, um die Gewalt in Syrien zu beeinflussen?

Nachawati: Es muss viel mehr getan werden, da die extrem dramatische Situation in Syrien anhält. Durchschnittlich werden jeden Tag 100 Menschen getötet. Diese Zahlen sind ein Skandal. Was wir erreichen müssen ist ein Konsens in Europa, das Regime diplomatisch zu isolieren! Seit einem Jahr versuche ich mit einer Gruppe syrisch-spanischer Aktivisten der Asociación de Apoyo al Pueblo Sirio, die spanische Regierung zur Ausweisung des syrischen Botschafters zu bewegen. Doch die Mittel der Diplomatie und des wirtschaftlichen und politischen Drucks sind zu langsam, wenn man sich die drastische Zahl der geforderten Menschenleben vor Augen führt.

politik-digital: Dem syrischen Regime scheint – gemessen an seiner brutalen Vorgehensweise – am internationalen Ruf wenig gelegen zu sein. Bleibt schließlich nur die militärische Intervention, um Menschenleben zu retten?

Nachawati: Ich denke, dass das Regime sehr wohl auf internationale Legitimität bedacht ist. Damaskus hängt von ihr ab. Deshalb klammerst es sich mit aller Macht an Russlands Rückhalt. Ich persönlich befürworte keine militärische Intervention ab. Wie kann man einen Militäreinsatz fordern, während man selbst nicht von den Bombardements betroffen ist? Wir wissen, wie die NATO-Einsätze beginnen, aber nie, wie sie enden. Wie ich bereits sagte: Mich erstaunt, dass von militärischer Intervention gesprochen wird, noch bevor sämtliche diplomatische Mittel ausgeschöpft worden sind. Wir haben dabei versagt, die Isolierung diplomatisch, wirtschaftlich und politisch konsequent voranzutreiben.

politik-digital: Welche diplomatischen Mittel stehen überhaupt zur Verfügung?

Nachawati: Die Ausweisung aller syrischen Diplomaten! Denn die Botschafter aus Damaskus sind nicht Repräsentanten ihrer Bürger, sondern der diplomatische Arm der syrischen Diktatur in den jeweiligen Ländern des Westens. Baschar Al-Assad benötigt einen gewissen Grad an internationalem Rückhalt, da es sich in einer Phase totaler Delegitimierung befindet. Die Ausweisung aller syrischen Botschafter aus Europa wäre folglich ein tödlicher Schlag gegen das Regime und ich verstehe nicht, was noch kommen muss, damit sich unsere Regierungen endlich darauf verständigen, die Repräsentanten eines Regimes hinauszuwerfen, die brutal und beispiellos gegen ihre Bürger vorgehen.

politik-digital: Können Sie hinsichtlich des verbleibenden diplomatischen Spielraums optimistisch in die Zukunft blicken?

Nachawati: In Anbetracht einer Regierung, die ausschließlich mit militärischer Gewalt auf die Forderungen seiner Bürger reagiert, fällt es schwer, optimistisch zu sein. Optimistisch kann man nur sein, wenn zu den Waffen der Vernunft gegriffen wird. Nicht jedoch, wenn ein Regime keine Grenzen kennt, und zügellos zu Folter und Mord greift – Wir sehen doch: Je verzweifelter das Regime ist, umso verachtenswerter seine Gräueltaten, umso zahlreicher seine Verbrechen. Was werden sie noch alles anrichten können, bevor sie stürzen? Diese Überlegung gibt wirklich keinen Anlass zu Optimismus!

politik-digital: Wie können wir im Westen den Wandel unterstützen?

Nachawati: Vor Allem, indem wir konsequent sind. Dies müssen wir Bürger in Europa von unseren Regierungen und den Firmen verlangen, die unter deren Schirm agieren. Unsere Unterstützung muss den die Bürgern der Revolutionsländer gelten und nicht deren Regimes. Den Bürgern zuzuhören und nicht den illegitimen Regimes: Das wäre der erste Schritt. Wir können den Bloggern, den Aktivisten und den Nichtregierungsorganisationen unsere Stimme verleihen, wir müssen ihre Blogs und Homepages lesen, ihre Videos anschauen, ihren Gesprächen auf Facebook und Twitter folgen.