Die Proteste gegen ACTA, die Arabische Revolution, Schavanplag – aus dem Internet ziehen mitunter heftige Stürme über die politischen Sphären oder zwingen Politiker zum Rücktritt. Eine Studie hat nun untersucht, wie ein solches Phänomen entsteht: der Internet-Tsunami.
Die an der Studie beteiligten Forscher gehen davon aus, dass das Aufkommen von Online-Medien und sozialen Netzwerken wie Twitter und Facebook die Kommunikations- und Medienwelt verändert hat: Anders als früher gibt es heute den Rückkanal, der es ermöglicht, umgehend zu antworten. Zudem ist der Empfänger häufig auch gleichzeitig Sender, z.B. der Leser eines Blogs, der den spannenden Beitrag sofort an Freunde weitertwittert.
Diese neue Eigenschaft der Kommunikation kann zu einer Verstärkung führen: Immer mehr Internetnutzer werden auf ein Thema aufmerksam und tragen dieses an andere Nutzer weiter. Wenn es dabei gleichzeitig zu einem Überspringen von dieser Bewegung auf die Offline-Welt kommt, gleicht es Wellen im Meer, die sich im abflachenden Küstenwasser zu Riesenwellen auftürmen: Der Internet-Tsunami ist entstanden.
Eine Welle von Konsequenzen
Dieses bislang nicht dagewesene Phänomen bleibt nicht folgenlos: Die Diktatoren in Ägypten und Libyen wurden gestürzt – die Empörung, die sich über Nachrichtendienste, Blogs und soziale Netzwerke ausbreitete, befeuerte die Proteste auf der Straße und wurde wieder zurück ins Netz getragen. Hierzulande mussten sich eine Reihe von Politikern – von denen der „Baron aus Bayern“ nur ein Beispiel ist – mit der wissenschaftlichen Güte ihrer Doktorarbeit konfrontiert sehen, die über Plattformen wie Vroniplag und zuletzt Schavanplag öffentlich zerlegt wurden. Am Ende stand bislang meist ein Rücktritt. Wie die Ereignisse dieser Woche zeigen, vielleicht auch nicht der letzte.
Die Internet-Tsunami-Studie bezieht Interviews von Netzakteuren mit ein und beleuchtet die Umstände für die Entstehung und die Folgen der Internet-Tsunamis. Die Studie der Europa-Universität Viadrina und von xaidialogue steht unter einer Creative-Commons-Lizenz, ist optisch ansprechend gestaltet und für netzaffine Menschen lesenswert.
Interview mit Jens Holste, Sozialwissenschaftler
Jens Holste hat an der Internet-Tsunami-Studie mitgearbeitet und war so freundlich, uns für ein Interview zur Verfügung zu stehen. Lesen Sie hier seine Antworten und Einschätzungen.
Herr Holste, wie werden Internet-Tsunamis das politische System in Deutschland verändern?
Es geschieht bereits – Internet-Tsunamis führten in jüngster Vergangenheit immer wieder zur Bildung einer (politischen) Masse und erzeugten dadurch Druck auf politische Entscheidungsträger und –prozesse. Aufgrund des immensen Informationsgrades und der Verteilprinzipien sozialer Netzwerke können neue Formen von politischer Beteiligung bereits jetzt politisch gesteuert und genutzt werden und differenzieren aus sich heraus weitere Beteiligungsformen aus.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Als Beispiel politischer Nutzung kann man die Meinungsfindung innerhalb der Piratenpartei anführen. So unstrukturiert das Ansinnen zunächst auf viele Beobachter wirken mag, kann man gerade hier Elemente der Nutzung und Steuerung von neuen Beteiligungslogiken im Internet erkennen.
Eine Beteiligungslogik, die basisdemokratische Anlehnungen hat und ideologische Vorgaben von Spitzenpolitik zunächst außer Acht lässt, wird über die Herausstellung von diskursiven Handlungen in Zukunft eine größere Rolle in der Politik spielen. Damit soll nicht das direktdemokratische Modell heraufbeschworen werden, dies wird aufgrund unserer Verfassung auch absehbar nicht möglich sein, vielmehr geht es darum, Rückkanäle für den Bürger und Wähler zu ermöglichen, wenn sich dieser politisch engagieren möchte.
Was bedeutet das für den einzelnen Bürger?
Die breitere Einbindung des Bürgers in politische Prozesse kann im digitalen Vorfeld seinen Ursprung nehmen und als Frischzellenkur für gereifte demokratische Systeme wirken. Damit liegt die Chance der Veränderung insbesondere im Engagement des Einzelnen.
Wie sollten sich Politiker, Parteien und Internetnutzer auf das Phänomen der Internet-Tsunamis einstellen?
Man sollte das Phänomen zunächst einmal erkennen, die mediale Wucht verstehen und gewissermaßen internet-historisch einordnen. Auch dieses junge Phänomen wird über die nächsten Jahre differenzierter zu betrachten sein, die alleinige Tatsache einer „Like it“-Beteiligung wird nicht ausreichen, um aus einer Meinung tatsächlich eine politische Haltung ableiten zu können.
Für Politiker und Parteien bietet es sich an, konstant Entwicklungen im Internet zu beobachten und damit frühzeitig Meinungsbildungsprozesse zu identifizieren. So kann man beispielsweise Probleme erkennen bzw., um im Bild zu bleiben, Tsunami-Frühwarnsysteme als Indikatoren für Problemlagen positiv nutzen. Die in der Studie genannten Fallbeispiele zeigen deutlich, dass diese Bewegungen in der Vergangenheit zunächst oft unterschätzt worden sind (z.B. Guttenberg).
Welche Auswirkungen werden diese Entwicklungen Ihrer Ansicht nach auf die Bürger haben?
Gerade im kommunalen und lokalpolitischem Umfeld werden wir vermehrt Mini-Tsunamis erleben. Bürger erleben und nutzen gerade im kommunalen Umfeld oft völlig unabhängig von parteipolitischer Gesinnung situative Beteiligungsfelder (Stadtplanung, Bildung und Schule, Umwelt- und Haushaltspolitik) zur Ausgestaltung ihres direkten Lebensumfeldes. Partizipation wird damit insbesondere lokal greifbar. Die kommunalen Verwaltungen leben bereits jetzt mit diesem Phänomen, sind dabei oft direkt konfrontiert und können oft keiner Pressestrategie folgen. Wir haben dieses Phänomen gemeinsam mit dem Deutschen Städte- und Gemeindebund analysiert und in einem Buch „Wellenreiter – Kommunalpolitik im Kontext von digitalen Meinungsimpulswellen“ zusammengefasst.
Werden Internet-Tsunamis das politische System responsiver machen oder werden Gefahren wie z.B. Manipulation überwiegen?
Definitiv besteht die Gefahr, dass Internet-Tsunamis für viele Akteure eine scheinbare Möglichkeit zur Manipulation bieten. Das so genannte Astroturfing wurde bereits in der Vergangenheit von einigen Lobbygruppen, allerdings mit mäßigem Erfolg, betrieben. Die positiven Auswirkungen überwiegen dies jedoch bei weitem. Seit Jahren wird in der BRD die Politikverdrossenheit der Bürgerinnen und Bürger heraufbeschworen. Die Internet-Tsunamis zeigen deutlich, dass der Bürger einiges zu Gesetzgebungsprozessen beitragen kann. Die Aussicht auf diskursive Handlungsprozesse durch den Bürger stellt eine vielversprechende Entwicklung dar.
Spätestens jetzt, 13 Jahre nach den ersten Gehversuchen in Forschungsprojekten zu „Electronic Voting“ in Deutschland (Universität Osnabrück) sollten Rahmenbedingungen für diese Elemente zu schaffen sein, um Manipulationsansinnen durch Codes of Conduct identifizierbar zu machen.
Wird das Phänomen Auswirkungen haben auf die traditionellen Medien wie Print und Rundfunk (z.B. Zeitungssterben)?
Die Internet-Tsunamis haben zunächst keine Auswirkungen auf die traditionellen Medien, außer, sie werden darin zitiert…. Die eigentlichen Probleme der Printmedien sind struktureller Natur – ein gedrucktes Blatt Papier ist statisch und der Dynamik der Internet-Tsunamis im pressetechnischen Anliegen – hier der der Aktualität – in keiner Weise gewachsen.
Dazu kommt: das Internet wird auf andere Weise weiter in eine „Print-Domäne“ stoßen: die Deutung des Alltags. Hat man sich früher für eine Tageszeitung aufgrund ihrer ideologischen Ausrichtung (konservativ, liberal, links usw.) entschieden, wird dies in Zeiten von Live-Ticker-Berichten und fortlaufend aktualisierten Einträgen über das Tagesgeschehen zunehmend schwieriger. Man beginnt über soziale Netzwerke, Foren und Blogs nach eigenen Maßstäben zu diskutieren: Der Zeitungsartikel wird immer mehr zu einer einfachen Meldung.
Auf welche anderen Lebensbereiche haben Internet-Tsunamis Auswirkungen?
Einen ähnlichen Vorgang können wir beispielsweise auf Shopping-Portalen wie Amazon entdecken, wo Produktrezensionen von Käufer verfasst werden, statt auf die Einschätzung von „Experten“ zu vertrauen. Der Nutzer wird aufgrund seiner eigenen Erfahrungen zum Sachverständigen und als Testimonial ebenso als vertrauenswürdig wahrgenommen.
Unter dem Strich spricht also auch hier einiges dafür, dass alles, was das Internet wahrnehmbarer macht, bei fehlenden bzw. nicht akzeptierten Geschäftsmodellen im Print den Print-Sektor substantiell schädigen kann.