Goldene Käfige und Digitaldebakel – die Autoren dieser Woche mögen große Worte. Während die Piraten-Geschäftsführerin Katharina Nocun den führenden Online-Unternehmen vorwirft, ihre Nutzer in Geiselhaft zu nehmen, nimmt sich Sascha Lobo die deutsche Bundesregierung vor: Die bisherige Netzpolitik sei eine einzige Verkettung an Fehlentscheidungen und Versäumnissen. Nur einer mahnt zu mehr Gelassenheit: Michael Weigert, Redakteur bei netzwertig.com, fordert die vielen Kritiker auf, leiser zu treten – und glaubt an die „Kraft einer konstruktiven Grundatmosphäre“.
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Demokratie passiert nicht einfach so, meint Bundespräsident Joachim Gauck und fordert die Bürger auf, die Politik nicht der Beliebigkeit oder gar dem Verdruss zu überlassen – und wählen zu gehen.
An die Kette
Sprengt die goldenen Käfige! Das fordert Katharina Nocun, Geschäftsführerin der Piratenpartei in einem Gastbeitrag für Zeit Online. Das Netz sei nicht primär Markt, „sondern zu allererst kritische Infrastruktur der digital vernetzten Demokratie“. Facebook und Co. aber würden ihre Gewinne über umfassende Datensammlungen generieren und hätten kein Interesse daran, „ihre Nutzer aus der Geiselhaft zu entlassen“. Außerdem könnten die Datenbestände dieser Monopolisten leicht und schnell von Geheimdienste angezapft werden. Es sei Aufgabe der Politik die „Mauern der Monopolisten“ endlich einzureißen. Offene Standards, offene Quellcodes, Datenportabilität und durchlässige Systeme müssten gesetzlich verankert und politisch aktiv unterstützt werden, schreibt Nocun. Sie schlägt unter anderem vor, Netzneutralität ohne Hintertüren via Gesetz vorzuschreiben, freie Software politisch zu fördern und für ein Kartellrecht zu sorgen, dass neuen Marktstrukturen gerecht wird und die Monopolisten „an die Kette“ nimmt.
Ich und ich und ich
Weitaus grundsätzlicher setzt Philip Mirowski in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung an und beschreibt das zersplitterte, zur Flexibilität angehaltene,„neoliberale Selbst“: Ein jeder sei „das Geschäft, der Rohstoff, das Produkt und der Kunde des eigenen Lebens“ geworden. Längst sei der Mensch gezwungen, „Körper und Seele entsprechend den Anforderungen des Marktes zu gestalten.“ Die eigene Identität werde insbesondere online und auf den vielen unterschiedlichen Plattformen laufend an die aktuellen Anforderungen angepasst – auch weil der Einzelne durchgehend dazu aufgefordert wird. Ein Paradebeispiel sei Facebook, ein Unternehmen, das die Daten seiner Nutzer verkauft. Facebook bringe den User durch Algorithmen und Handlungsaufforderungen regelrecht bei, sich selbst in eine „anpassungsfähige unternehmerische Identität“ zu verwandeln. Die User würden ohne Unterlass an ihren multiplen Webidentitäten basteln, sie managen und „optimieren“. Denn ihre Profile wirken in das reale Leben zurück: Potenzielle Arbeitgeber, Freunde und Familie überprüfen die Seiten des Nutzers. Tritt ein Problem auf, so sei es innerhalb dieser Logik die naheliegenste Lösung, das eigene virtuelle Profil noch stärker zu überarbeiten. All das sei „ein verkleinertes Modell des neoliberalen Selbst, und – höchst aufschlussreich- es sorgt für Profit.“
Merkel will nicht
Transparenz? Nein, danke. Deutschland hänge in punkto Open Government weit hinter anderen westlichen Staaten zurück, schreibt Timo Stukenberg in „Der Freitag“. Und das, obwohl offenes Regierungshandeln auch ökonomische Vorteile mit sich brächte: Open Government würde zu Effizienz zwingen – schließlich könnten die Daten von Behörden dann öffentlich eingesehen und kontrolliert werden. Außerdem würde sich auf diese Weise das „Verhältnis von Verwaltung und Bürger vom Kopf auf die Füße“ stellen. Durch die Offenlegung ihrer Daten seien die Behörden dazu gezwungen, sich als Dienstleister an der Bevölkerung zu betrachten.
Doch die Open-Government-Strategie der Bundesregierung ist gescheitert, meint Stukenberg. Auf dem Onlineportal der Bundesregierung „govdata.de“würden hauptsächlich unwichtige und uninteressante Informationen veröffentlicht. Außerdem habe es die Regierung versäumt, Behörden und Verwaltungen von dem Vorhaben zu überzeugen. Deutschland verschlafe einen großen Schritt in Richtung Demokratisierung, den andere Staaten durch die Unterzeichnung einer gemeinsamen Erklärung längst gegangen seien.
“Eisenharte Fehlinformation”
Kurz vor der Wahl lohnt sich ein abschließender Blick auf die bisherige Netzpolitik der Bundesregierung. Sascha Lobo zieht ein vernichtendes Fazit und zählt die „Digitaldebakel“ von Merkel und Co. in seiner Spiegel-Kolumne akribisch auf: Die „dramatisch vernachlässigte Infrastruktur“ und die versäumte gesetzliche Verankerung der Netzneutralität seien nur ein kleiner Teil einer ganzen Reihe an netzpolitischen Fehlschlägen. So habe die schwarz-gelbe Koalition beispielsweise das „Leistungsschutzrecht“ für Presseverlage auf den Weg gebracht – ein Gesetz, das letztlich keinen Zweck erfülle. Neben weiteren Fehlschlägen verweist Lobo insbesondere auf „das realitätsferne Narrenspiel zur NSA-Spähaffaire“: Die Bundesregierung würde auf die Vorwürfe mit „eisenharter Fehlinformation“ und der Verbreitung von „gezielter Unwahrheit“ reagieren. Letztendlich seien die vielen Versäumnisse und Fehlvorhaben Folge einer massiven politischen Gleichgültigkeit gegenüber der digitalen Szene. Lobos ernüchterndes Schluss-Resümee: Die digitale Welt sei noch lange nicht in den Köpfen der Politik angekommen.
Ausnahmsweise leise treten
Die digitale Szene reagierte schnell auf Lobos Beitrag: Martin Weigert schreibt auf netzwertig.com von einer „Empörungsabwärtsspirale der deutschen Netzverteidiger“. Grundsätzlich seien der deutschen Politik zwar tatsächlich immense Versäumnisse auf netzpolitischer Ebene vorzuwerfen. Dennoch hätte sich die Netzgemeinde in einer Spirale aus Kritik und Vorwürfen an die Politik verfangen, die dazu beitrage, den Frust aller Beteiligten – inklusive der digitalen Szene selbst – zu verstärken. Außerdem habe diese Strategie bisher nicht zu einer Verbesserung der Situation geführt. Weigert glaubt an die „Kraft einer konstruktiven Grundatmosphäre“und wünscht sich deshalb Blogger, die beizeiten auch auf positive Entwicklungen hinweisen. Er plädiert für ein Experiment, bei dem alle sonst lautstarken Kritiker zumindest für einige Zeit pausieren. Und hofft darauf, dass die Politik von einer „Sogwirkung des allgemeinen Optimismus“ mitgezogen wird.