(Artikel) Beim 27. Jahrestreffen von ICANN Anfang Dezember 2006 in São Paulo stand erneut die Zukunft der Institution auf der Agenda. Eines der Hauptziele: Unabhängigkeit. Für die nächsten drei Jahre bleibt ICANN aber unter US-Aufsicht. Ein Strategiepapier versucht, das Dilemma zu lösen.
Eine Veranstaltung Anfang November in Athen hatte gezeigt, was passiert, wenn sich Regierungs- und Wirtschaftsvertreter sowie Zivilgesellschafter treffen, um ergebnisoffen und hierarchiefrei zu diskutieren. Netzwerkartig, informell, jeder konnte sich jederzeit einbringen – so wie das Athener Internet Governance Forum IGF funktioniert das Internet in seinen besten Momenten.
Einen Monat später, beim 27. ICANN Jahresmeeting Anfang Dezember in São Paulo, war davon nichts übrig, die Diskutanten hätten sich von der IGF-Aura ruhig eine dicke Scheibe abschneiden können. Von locker-kreativer Atmosphäre keine Spur.
ICANN steht für Internet Corporation for Assigned Names and Numbers und ist eine privatrechtliche Organisation, die seit ihrer Gründung 1998 die Kernressourcen des Internets, die so genannten Root-Server, verwaltet. ICANN ist somit Dreh- und Angelpunkt, wenn es um die Zukunft der Internetverwaltung geht: Wer soll in Zukunft das Rückgrat und das Adressbuch des Internet kontrollieren? Die Internationale Staatengemeinschaft durch die Internationale Fernmeldeunion ITU? Die Wirtschaft? Die Zivilgesellschaft, sprich: die Benutzer? Oder wie bisher die private ICANN, die durch Rahmenverträge an die USA gekettet ist?
Neue Regionalgruppe als größter Erfolg
Vor dem Treffen in São Paulo verlängerten die US-Regierung und ICANN ihr bisheriges “Memorandum of Understanding” durch ein so genanntes „Joint Project Agreement” (JPA) um weitere drei Jahre. Darin verzichtet zwar das US-Handelsministerium auf jährliche Rechenschaftsberichte von ICANN. ICANN könne von nun an selbst festlegen was es tut, hieß es. Die US-Regierung machte jedoch deutlich, dass sie nicht gewillt ist, ihren Einfluss vollständig aufzugeben. ICANN selbst versteht unter dem Vertrag zwar den letzten Schritt zur Unabhängigkeit, faktisch schreibt dieser Vertrag den Status Quo erst einmal fest.
Als größten Erfolg wertete man in São Paulo die Gründung der ersten “Regional At-Large Organisation” (RALO), die nun neben den bereits bestehenden RALOs auch Lateinamerika und die karibischen Staaten zusammenfasst. Dieser Zusammenschluss von 21 Universitäten und NGOs in einer mit ICANN formal verbundenen Organisation gilt als wichtiger Schritt, um die Zusammenarbeit zwischen der Zivilgesellschaft und ICANN weiter zu vertiefen und zu formalisieren.
Fünf strategische Ziele
Das nun in São Paulo verabschiedete Strategiepapier macht allerdings zweierlei deutlich. Einerseits den Willen, sich langfristig von der US-Administration zu lösen und eine wirklich unabhängige Organisation zu schaffen, die von verschiedenen Akteuren getragen wird. Andererseits soll dieser Weg nicht allzu schnell beschritten werden, um nicht zwischen den verschiedenen Interessen zerrieben zu werden. Schlimmstenfalls könnte mit einer zerstrittenen Staatengemeinschaft, die gewillt ist, das Heft an sich zu reißen, eine Aufspaltung des Netzes in lauter kleine national kontrollierte Netze drohen.
Der Hauptaspekt ist die Rolle ICANNs als internationale Non-Profit-Organisation, die für alle Interessensgruppen offen bleibt. Und deren Aufgabe es ist, die Stabilität und Sicherheit des Internets, konkret: des Domain Name Systems DNS, also des Internet Protokolls, zu gewährleisten. Besonders wichtig ist ICANN, dass der Prozess der Entscheidungsfindung transparent bleibt.
Das Papier formuliert fünf strategische Ziele, die die Organisation in den nächsten drei Jahren erreichen will. Dabei geht es zunächst um eine effizientere Organisation vor allem im technischen Bereich. Das zweite Ziel lautet, bessere Strategien zur Politikentwicklung zu finden. Hier sollen in erster Linie Entscheidungswege transparenter und Kommunikationswege innerhalb von ICANN und den ICANN-Unterorganisationen deutlicher gemacht werden. Desweiteren wollen sie die Zusammenarbeit mit der internationalen Internetgemeinschaft verbessern. Hier sollen Mechanismen gestärkt werden, die es den Nutzern weltweit erlauben, leichter an den Entscheidungsfindungsprozessen von ICANN teilzunehmen. Außerdem will man, so Punkt Nummer Vier, das Multistakeholder-Milieu von ICANN weiter stärken, vor allem indem man Interessensvertreter in Zukunft gezielter unterstützt. Das letzte strategische Ziel auf der Liste ist, ICANN vollständig in eine unabhängige, private Multistakeholder-Organisation umzuwandeln. Allerdings scheint noch nicht klar zu sein, wie diese zukünftige Organisation genau aussehen könnte. Außer der vagen Idee, die Stakeholder-Gruppen sowie die Regierungen auf formalere Weise in die Struktur einzubinden, verrät das Papier noch nichts Konkretes.
Nichts Halbes und nichts Ganzes
Das Strategiepapier zeigt damit deutlich das Dilemma, in dem ICANN steckt. Zum einen ist das Internet von unten entstanden, mit Strukturen, die in erster Linie die Idee von Technikern und Wissenschaftlern waren. Mit seiner gewachsenen Bedeutung verlangen natürlich auch Staaten zunehmend Einfluss auf ihre „nationalen“ Netze. Gleichzeitig stehen aus historischen Gründen, das Internet wurde nun einmal in Amerika erfunden, die Kernkomponenten des Internet in den USA. Es gibt zwar gute Gründe dafür, dass die USA sich die Kontrolle entziehen lassen sollten – nicht zuletzt ist das Internet mittlerweile stärker Chinesisch als Englisch dominiert – , gleichzeitig allerdings recht unwahrscheinlich.
Wie schwierig es ist, innerhalb dieses Interessensbündels neue Strukturen zu etablieren, wenn es wirklich um etwas geht, zeigt ICANN. Wie einfach es sein kann, wenn es zunächst nur um Diskussionen und Visionen geht, zeigt das Internet Governance Forum. In Athen konnte man beobachten, wie globales Regieren zukünftig aussehen könnte.