Die Zahl lässt aufhorchen: Jede Sekunde gehen drei Inder erstmals online. In keinem Land der Welt verändert die digitale Transformation das Leben so vieler Menschen wie in Indien. Mehrere Akteure treiben den historischen Prozess.
Im politischen Bereich ist es zuvorderst Ministerpräsident Narendra Modi. Mit seiner „Digital India“-Kampagne will der ehrgeizige Staatsmann das in Teilen noch im Mittelalter verharrende Riesenland in die Moderne katapultieren. Modi hat mächtige Verbündete – im Inland wie im Ausland. An erster Stelle stehen die großen internationalen Technologiekonzerne. Indien gleicht – im übertragenen Sinne – einem Schlachtfeld, auf dem Amazon, Apple und Google (um nur die wichtigsten zu nennen) um Macht und Einfluß kämpfen.
Zahlen und Prognosen befeuern die Phantasie der Investoren: Heute sind 350 Millionen Inder online, bis Ende des Jahrzehnts soll sich diese Zahl auf 500 Millionen erhöhen. Das sind dann eine halbe Milliarde Menschen, die überwiegend auf Smartphones, die sie sich noch kaufen müssen, kommunizieren und zunehmend auch Geschäfte machen.
Einerseits ist Indien der Markt mit den größten Wachstumsraten, wenn es um die IT-Branche geht. Anderseits belegt die Statistik, dass – heute – nur kaum jeder Dritte Inder im Netz ist: „Der Zustand des Nicht-Verbundenseins führt zum (wirtschaftlichen) Ausschluss von einer Milliarde Menschen“, sagt Osama Mansar, der Präsident der Digital Emowerment Foundation (DEF), einer Nichtregierungsorganaisation, die sich für die Überwindung des sogenannten „digital divide“ einsetzt.
Neue Lebenschancen
Google sieht sich an der Speerspitze, wenn es um die Überwindung der „digitalen Spaltung“ in Indien geht. Mit einer Vielfalt von Programmen arbeitet der Konzern daran, digitalen Medienzugang sowie Medienkompetenz zu erhöhen. Zielgruppen sind dabei vor allem die einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen. Viele dieser Menschen sind wirtschaftlich und gesellschaftlich marginalisiert. Für sie – so die Vision – eröffnet das Internet neue Lebenschancen.
Googles Indien-Programme kommen mit einem sozialen, philanthropischen Touch daher. Am Ende geht es aber nicht um Sentimentalitäten, sondern um knallharte wirtschaftliche Interessen, die den US-Konzern auch in Indien antreiben.
Wie jede gute Strategie gehen Googles Pläne in Indien auf die lokalen Besonderheiten ein. Lückenhafte Netzinfrastruktur, schwache Datenübertragungsraten und nicht weniger als 22 offizielle Landessprachen schaffen eine Vielzahl von Herausforderungen für ein Unternehmen, das im Internet Geld verdienen will. Für alle diese Herausforderungen hat Google Lösungen parat.
Im Schulterschluß mit der staatlichen Eisenbahngesellschaft ist Google dabei, an 400 Bahnhöfen Hotspots mit kostenlosem Wifi bereitzustellen. „Google Station“ heisst die nächste Etappe des Projektes, das das Internet unters Volk bringen soll. In Malls, Cafes und anderen öffentlichen Plätzen sollen Inder an Google-Hotpots kostenfrei im Internet surfen können. Die Mehrheit dieser Menschen bewegt sich heute auf dem 2 G Mobilfunkstandard durch das Netz, also mit vergleichweise niedriger Geschwindigkeit der Datenübertragung. Den in vielen Landesteilen schlechten Mobilfunkverbindungen will Google mit einer Reihe von „datenschonenden“ Programmen begegnen. Dazu gehört „YouTubeGo“, eine App, die – so das Unternehmen – zunächst nur für den indischen Markt entwickelt wurde, und die Datenmengen von Downloads vermindert, demnach auch bei schlechter Verbindung funktioniert.
Vielsprachig im polyglotten Indien
Vermutlich die nachhaltigste Wirkung werden die vielsprachigen Angebote im polyglotten Indien haben. Zwar ist Englisch (neben Hindi) die offizielle Sprache. Die große Mehrheit der Inder spricht diese Sprache aber nicht oder allenfalls lückenhaft. Von den 350 Millionen Indern, die heute online sind, kommunizieren lediglich knapp die Hälfte fliessend in der Sprache der ehemaligen Kolonialherrn, sagt Richa Singh Chitranshi, die bei Google für die asiatischen Sprachdienste verantwortlich ist.
Die Zahlen verweisen auf den Erfolg von Googles Sprachen-Strategie: Die Wachstumsraten in den Regionalsprachen liegen um ein Vielfaches über den Zuwächsen bei den englisch-sprachigen Angeboten. „Die Nachfrage nach Inhalten in Hindi wächst fünf Mal schneller als die Nachfrage nach englischen Inhalten“, so Chitranshi. Google erntet schon jetzt die Früchte seiner sprachlichen Diversifizierungsstrategie; das Potential ist gewaltig, nicht zuletzt auch deshalb, weil es so gut wie keine Konkurrenz gibt, die dem Beinahe-Monopolisten Paroli bieten könnte.
Googles Indien-Engagement hat eine zusätzliche – strategische – Dimension. Für den Konzern ist das südasiatische Land eine Art Versuchslabor, hier werden Geschäftsideen auf ihre internationale Übertragbarkeit getestet.„Wir haben etwas wichtiges festgestellt, wenn es um die Verbesserung unserer Produkte in Indien geht. Es macht diese besser für alle in der Welt. Indien liefert uns frühe Einsichten über die Zukunft des Internet.“
Das sagt Sundar Pichai. Er leitet seit 2015 Google – und ist Inder.
Titelbild: MG_394 by Pabak Sarkar via Flickr, licenced CC-BY-NC-ND 2.0