Der französische Bürger wird zum Staatsfeind Nr.1. Mit dem gerade verabschiedeten Überwachungsgesetz räumt die französische Regierung den Geheimdiensten und Terrorabwehreinheiten der Polizei so weitreichende Befugnisse zur Überwachung aller Bürger ein, dass man sich fragt, wer wem stärker misstraut: der Bürger dem Staat oder der Staat dem Bürger. Ein Blick auf das Wechselspiel von Angst und Freiheit.
Nach den Anschlägen auf die Redaktion des französischen Satiremagazins „Charlie Hebdo“ und einen jüdischen Supermarkt in Paris zu Beginn des Jahres, wurde jetzt in Frankreich ein Gesetz aus der Schublade geholt, mit dem den französischen Geheimdiensten zur Abwehr von Gefahren umfangreiche Überwachungsmöglichkeiten eingeräumt werden. Der Senat hat das Gesetz in dieser Woche nun ebenfalls beschlossen, nachdem die französische Nationalversammlung bereits Anfang Mai mit großer Mehrheit zugestimmt hatte. Frankreichs Präsident François Hollande will das Gesetz nun dem Verfassungsrat zur Prüfung vorlegen und reagiert damit auf die Kritik von Verfassungsrechtlern. Sobald die Prüfung abgeschlossen ist, können die Maßnahmen in Kraft treten. Gleichzeitig haben Bürgerrechtler angekündigt, vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen das Gesetz zu klagen.
Sollte auch der Vermittlungsausschuss dem finalen Gesetzestext aus beiden Häusern zustimmen, dürfen die französischen Geheimdienste und die Anti-Terroreinheiten der Polizei ab Juli in großem Umfang auf Mobil- und Bewegungsdaten aller Bürger zugreifen. Ohne richterliche Anordnung können dann Autos und Handys in Echtzeit geortet, Wohnungen abgehört, IP-Adressen ausgelesen und zugeordnet und Verbindungsdaten erhoben werden. Den Behörden wird darüber hinaus erlaubt, eigene „Black Boxes“ bei den Telekommunikationsanbietern zu installieren, um in Echtzeit Metadaten nach bestimmten Algorithmen auswerten zu können. Daten aus dem Ausland, die Frankreich durchqueren, sind davon ebenso eingeschlossen. Auch die gezielte Auswertung von Schlüsselbegriffen oder auffälligen Kommunikationsstrukturen soll so ermöglicht werden.
Eine Tradition der Überwachung und neue Befugnisse
Die neuen Befugnisse sollen in erster Linie der Terrorabwehr dienen, haben aber allgemein den Schutz der nationalen Sicherheit zum Ziel. Darunter fallen auch die Sicherung der nationalen Unabhängigkeit und der territorialen Integrität Frankreichs, die Wahrung der essentiellen Interessen der französischen Außenpolitik, sowie der ökonomischen, industriellen und wissenschaftlichen Interessen Frankreichs, der Schutz der öffentlichen Ordnung vor kollektiver Gewalt und die bessere Verfolgung des organisierten Verbrechens und der Kriminalität. Diese sehr weitgefassten Kriterien lassen den Behörden einen großen Auslegungsspielraum und wurden von Bürgerrechtlern und Verfassungsschützern heftig kritisiert. Die dehnbaren Formulierungen geben den Behörden die Möglichkeit, auch politische Gruppierungen, Protestgruppen oder Journalisten zu überwachen. Eine richterliche Anweisung ist für die Datenabfrage nicht notwendig, stattdessen genügt eine einfache Abfrage bei der neu eingerichteten nationalen Kommission zur Kontrolle der Geheimdiensttechniken (CNCTR), die allerdings nur beratend tätig wird. Der Premierminister kann das Gremium überstimmen und auch ohne Rückkopplung mit der Kommission Anweisungen erteilen.
Frankreich hat bereits eine lange Geschichte der staatlichen Überwachung: die Vorratsdatenspeicherung gilt dort seit über zehn Jahren, die umfangreiche Videoüberwachung des öffentlichen Raums gehört längst zum Alltag, und auch der Zugriff auf Daten ohne richterlichen Beschluss wird von den Geheimdiensten seit längerem praktiziert. Das neue Gesetz legalisiert somit nur eine ganze Reihe bereits angewendeter Maßnahmen, von denen einige durch die Snowden-Dokumente erst im letzten Jahr bekannt geworden waren. Die Regierung hatte die massive Überwachung des amerikanischen Geheimdienstes NSA damals noch kritisiert, gleichzeitig wurde im vergangenen Sommer mit der Arbeit an dem jetzt beschlossenen Gesetz begonnen. Die Terroranschläge von Paris bildeten, wie bereits die Anschläge auf New York und Washington im Jahr 2001, einen guten Anlass zur umfangreichen Ausweitung der staatlichen, anlasslosen Überwachung aller Bürger.
Vorbild USA?
Die USA hatten kurz nach Anschlägen vom 11. September den US Patriot Act verabschiedet, mit dem FBI und CIA weitreichende Befugnisse zur Überwachung der amerikanischen Bevölkerung ohne richterliche Kontrolle eingeräumt wurden. Der Patriot Act wurde in der vergangenen Woche durch den Freedom Act abgelöst, der nach 14 Jahren die unkontrollierte Handlungsfreiheit der NSA etwas einschränken soll. In Deutschland ist nach dem Attentat auf Charlie Hebdo die Debatte über die erneute Einführung der Vorratsdatenspeicherung wieder aufgeflammt und soll möglichst schnell zu einem neuen VDS-Gesetz führen. Das Vorhaben ist höchst umstritten, gerade erst hat der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages den neuen Gesetzentwurf als verfassungswidrig und nicht mit dem europäischen Recht vereinbar kritisiert.
Doch viele Länder, in denen die Vorratsdatenspeicherung bereits eingeführt wurde, rudern inzwischen zurück. Im März wurde in den Niederlanden das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung außer Kraft gesetzt und auch in Tschechien und Rumänien hoben Verfassungsgerichte entsprechende Gesetze wieder auf. Das irische Verfassungsgericht hat das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung dem Europäischen Gerichtshof zur Prüfung vorgelegt. Erst in dieser Woche wurde in Paraguay eine bereits im November 2014 gestartete Gesetzesinitiative zur Einführung einer Vorratsdatenspeicherung gestoppt, die zuvor bereits vom Senat beschlossen worden war. In Belgien erklärte das Bundesverfassungsgericht die geltende Regelung der Vorratsdatenspeicherung gestern für ungültig.
Dass der massive Einsatz von staatlichen Überwachungsinstrumenten nur bedingt zur Erhöhung der Sicherheit der Bürger beiträgt, haben die Anschläge von Paris gezeigt. Die Attentäter standen bereits lange vor dem Angriff der Redaktion unter polizeilicher Beobachtung, die Behörden erkannten jedoch keine erhöhte Bedrohung und auch die Vorratsdatenspeicherung trug nicht zur schnelleren Aufklärung des Anschlags bei. Die zentrale Frage bleibt also, ob die massive Beschränkung der Freiheit des einzelnen Bürgers für eine subjektive Erhöhung des Sicherheitsgefühls Rechtfertigung genug ist. Die Garantie der öffentlichen Sicherheit und der Schutz der Bürger sind natürlich Grundaufgaben des Staates, aber ob dafür jedes Mittel recht ist, sollte nicht im Affekt beschlossen sondern gründlich abgewogen werden. Freiheit und informationelle Selbstbestimmung wurden zu hart erkämpft, als das sie im Vorbeigehen abgeräumt werden sollten.