Favella-Trajano-PhotoEin Viertel der Bewohner von Rio de Janeiro – Gastgeber der Fußballweltmeisterschaft 2014 und Olympia 2016 – lebt in Favelas. In den fast 1.000 Armenvierteln der brasilianischen Metropole bestimmen Drogenbanden seit Jahren das tägliche Leben. Favelas sind daher vor allem eins: ein Synonym für Gewalt und Armut. Weniger bekannt ist, dass die Elendsviertel längst auch Quelle und Hort digitaler Kreativität sind.
Vor allem junge Favela-Bewohner üben sich mit Begeisterung in der lokalen Berichterstattung. Die deutschen Journalistinnen Julia Jaroschewski und Sonja Peteranderl schreiben seit 2001 auf BuzzingCities und aus den Favelas in Rio, wohnen selbst in der Favela Rocinha und bloggen live von dort auf ihrem „Favelawatchblog“. In der Veranstaltung „#favelasonline – Digitaler Wandel in den Armenvierteln von Rio de Janeiro“ der Heinrich-Böll Stiftung berichteten sie in Berlin, wie das Internet die brasilianischen Armenviertel in „die größten Startups Lateinamerikas“ verwandelt.

IMG_2006-Ausschnitt-SkaliertEin „Make-Up“ für die Stadt?

Vor dem Start der international beachteten Großereignisse soll sich in Rio, der Stadt der Strände und Sonnenanbeter, noch einiges ändern. Bis zur WM in diesem Sommer möchte der Staat etwa 250 Favelas in Rio polizeilich mit der sogenannten Befriedungspolizei UPP besetzen. Die Verdrängung von Drogenbanden soll die Viertel sicherer machen und Investitionen in die Infrastruktur sollen für eine Integration der Favelas in die Stadt sorgen. Ob diese Maßnahmen langfristig etwas verändern oder nur als kurzlebiges „Make-Up“ die Stadt aufhübschen, lässt sich nicht sagen. Es ist jedoch auffällig, dass hauptsächlich bekannte Favelas, die potenziell Touristen anlocken, von den staatlichen Verschönerungsmaßnahmen profitieren. Der Ausbau von Bibliotheken, Sportzentren und Seilbahnen ist zwar lobenswert aber vor allem medienwirksam, während Probleme wie eine marode Kanalisation, unzureichende Stromversorgung und Korruption in den meisten Favelas bestehen bleiben. Die Unzufriedenheit über die Inbesitznahme ihrer Viertel durch einen Staat, der Tourismus und die Interessen der Wohlhabenden fördert, wird von den Favela-Bewohnern lebhaft auf Twitter, Facebook, Instagram und Blogs dokumentiert. Als Reaktion auf die aufgezwungenen Veränderungen vollzieht sich in den Favelas gleichsam ein digitaler Wandel ab, der zum Teil nationale Beachtung erlangt.

Das Internet als neues politisches Instrument

Abwasserversorgung und Müllentsorgung sind in Brasiliens Armenvierteln meist in miserablem Zustand, doch das Internet ist nicht mehr aus den Favelas wegzudenken. Heute ist mehr als die Hälfte der Bewohner online, 78 Prozent der jüngeren Generation nutzt das Internet täglich. Die großen Telekommunikations- und Mobilfunkunternehmen machen sich diesen Wandel zunutze. Sobald eine Favela befriedet wurde, bieten sie verschiedene Pakete für mittellose Klienten an und entwickeln Apps speziell für Favela-Bewohner.
Das Internet hilft den Bewohnern der Elendsviertel, politisch aktiv zu werden und Entscheidungsträger zum Handeln zu bringen. So organisierten viele Menschen sich im vergangenen Jahr in sozialen Netzwerken, um an den Sozialprotesten in Rio teilzunehmen. Wie auch schon im Arabischen Frühling wurde Polizeigewalt mit Handykameras dokumentiert und bot eine alternative Berichterstattung neben den Massenmedien. Umstrittene Projekte des Staats, wie der Bau einer teuren Seilbahn inklusive Zwangsumsiedlungen, werden im Internet kritisch diskutiert und Stromrechnungen öffentlich auf Facebook gepostet, um die neu eingeführten Preise zu vergleichen. Der wohl bekannteste Fall öffentlichen Drucks auf die Politik aus einer Favela ist der von Amarildo de Souza. Nachdem er im vergangenen Jahr spurlos aus der Favela Rocinha verschwand, startete seine Familie eine Facebook-Seite und löste eine Solidarisierungswelle sowie Straßenproteste im Namen aller Vermissten aus. Unter dem Druck der Massen wurde in einer Untersuchung festgestellt, dass die UPP ihn zu Tode gefoltert hatte. Der Polizeichef der UPP-Einheit in Rocinha musste gehen, 25 Polizisten wurden angeklagt.
Marina Moreira aus der Favela Morro de Providencie ist eine der jungen Reporterinnen und auf Twitter sehr aktiv. Sie ist für die Veranstaltung nach Berlin gekommen und teilt dem deutschen Publikum mit: „Wir finden neue Formen von Politik“.

Auch Michel Silva bloggt und twittert täglich mithilfe seines Smartphones auf vivarocinha.org. Wenn er über Probleme wie kaputte Straßen und Brände berichtet, hilft das den Bewohnern, aber er macht die Alltagsprobleme der Bewohner auch für ein nationales Publikum sichtbar.

Ein neues Selbstbewusstsein

Nicht nur die Probleme der Favelas werden im Internet kommuniziert. Eine neue Generation von selbstbewussten jungen Favela-Bewohnern erstellt Facebook-Seiten für Restaurants und Geschäfte, macht Fotos von Bars und Kunstprojekten und entkräftet so das negative Image ihrer Heimat in der brasilianischen Gesellschaft. Die Initiative „Tá no mapa“ („Es ist auf der Karte“) der NGO AfroReggae macht Sehenswürdigkeiten und kulturelle Einrichtungen der Armenviertel auf einer Karte sichtbar. favelawatchblog berichtet hier, dass Google Maps den Begriff “Favela” 2009 auf Initiative des Bürgermeisters von Rio, Eduardo Paes, und der städtischen Tourismusagentur Riotur überwiegend aus den Karten gelöscht und die Armenviertel als strukturlose Farbkleckse ohne Einzeichnung von Straßen angezeigt hatte. AfroReggae und andere Initiativen kontern auf diesen Identitätsdiebstahl mit ihren selbst erstellten Karten, denn „eine Karte ist mehr als eine Karte – sie ist auch ein Existenzbeweis“, so AfroReggae.

Wird alles anders?

Im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft und der Olympischen Spiele dient das Internet den Favela-Bewohnern als Instrument der Selbstorganisation, lokalen politischen Berichterstattung und Identitätsschaffung. Nationale wie internationale Medien berichten zunehmend über die Situation in den Armenvierteln. Wünschenswert wäre, dass das breitere Interesse auch nach Ende der Großereignisse bestehen bleibt. Doch ist der neue Bürgerjournalismus nicht ungefährlich, denn Drogenbanden sind weiterhin die inoffiziellen Herrscher der Viertel. Drogen werden als Thema in der Berichten deshalb oft ausgespart, was einen unabhängige Berichterstattung – und dadurch auch ein rundum authentisches Bild der Lage – erschwert.
Bilder: Thiago Trajano (oben); Christina zur Nedden; (CC BY-NC 2.0)
 
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