Freunde, Fans und Follower – die Online-Kampagne von Barack Obama im US-Präsidentschaftswahlkampf brachte die Prototypen des Mitmach-Internet rechtzeitig zum Superwahljahr 2009 nach Deutschland. Seitdem häufen sich Online-Kampagnen durch engagierte Bürger und Netzaktivisten, stehen "Digitale Bürgerrechte" auf der öffentlichen Agenda und kämpft die Piratenpartei um Anerkennung und Wählerstimmen. Formiert sich in den sozialen Netzwerken allmählich eine neue politische Klasse? Wie wirken sich die neuen Medien auf die politische Beteiligung aus? Der Politikwissenschaftler Christoph Bieber ist diesen Fragen nachgegangen und beschreibt in seinem neuen Buch, wie die "digitale Herausforderung" die deutsche Parteienlandschaft, Wahlkampf und Wahlen verändert hat. Das Buch erscheint am 1. Oktober 2010. Exklusiv auf politik-digital.de finden Sie hier ein Kapitel als Vorab"druck":
Die Politik kann lernen, das Netz zu lieben
Wie aber reagiert die etablierte Politik auf die allmähliche Formation solcher neuen politischen Akteure und Milieus? Bislang dominieren Skepsis und Zurückhaltung. Die Rekrutierung von Quereinsteigern oder die Einbettung neuer Formate erfolgt bestenfalls in einer Art protected mode, bei dem sichergestellt ist, dass die vorhandenen Strukturen durch personelle wie inhaltliche Innovationen nicht zu sehr herausgefordert und verändert werden. Die Auseinandersetzung mit der aus dem Blickwinkel von Parteien, Parlamenten und Regierungen noch immer diffus erscheinenden politischen Online-Landschaft erfolgt meist durch unterschiedliche Formen der Beratung wie Gesprächsrunden, Hearings und Konsultationen bei Fraktionen, Ausschüssen oder Ministerien, in manchen Fällen auch durch die Berufung von Gremien für eine längerfristige Unterstützung.
Allerdings sind die Vorschläge zur Verbesserung einer offiziellen deutschen Internetpolitik längst nicht so leicht in die Tat umzusetzen, wie das in schöner Regelmäßigkeit gefordert wird. Als etwa der Vorsitzende des Branchenverbandes Bitkom, August-Wilhelm Scheer, anlässlich der Computermesse CeBit 2010 plakativ die Einführung eines Internetministers forderte, ließ er dabei grundlegende Rahmenbedingungen der Regierungsorganisation außer acht. Die Einrichtung eines neuen Querschnittsressorts mit Aufgaben mindestens in den Bereichen Rechts-, Innen-, Wirtschafts-, Bildungs-, Familien- und Verbraucherpolitik würde allein schon an den Beharrungskräften der Ministerien scheitern, die sich bislang mit ausgewählten Facetten der Netzpolitik auseinandersetzen. Auch das Modell des Kulturstaatsministers, der qua Amt ja auch als »Beauftragter für Kultur und Medien« fungiert, ist als Blaupause für einen Internetstaatsminister kaum geeignet, denn in diesem Aufgabenfeld gibt es weder einen nachgeordneten Behördenapparat noch prestigeträchtige Digitalisierungsprogramme, die einer Ministerposition die notwendige Macht und Durchsetzungskraft verleihen könnten. Darüber hinaus eignet sich das Feld der Netzpolitik bislang nicht, um parteiinterne Karrieren zu begründen. Es ist kein Zufall, dass es erst seit dem 2-Prozent-Warnschuss der Piratenpartei in allen Parteien netzpolitische Sprecher gibt, bei denen es sich nicht um die erste Nachwuchsgarde, sondern um weitgehend unbekannte Hinterbänkler mit wenig auffälligen Online-Biografien handelt.
Auf parlamentarischer Ebene laufen die Fäden bei der im Frühjahr 2010 neu eingerichteten Enquête-Kommission »Internet und Digitale Gesellschaft« zusammen. Hier tritt gewissermaßen ein Enkel der noch unter Altbundeskanzler Helmut Kohl ins Leben gerufenen Enquête »Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft« (1996-1998) auf den Plan. Während sich damals der Boom der New Economy in der Formierung eines parlamentarischen Informationsgremiums niedergeschlagen hat, so führen nun die Auswirkungen des Web 2.0 zu einer ähnlichen Reaktion. Grundsätzlich ist nichts gegen die Nutzung dieses Instruments zur »Vorbereitung von Entscheidungen über umfangreiche und bedeutsame Sachkomplexe« einzuwenden, wie die Rolle der Kommissionen in § 56 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages umschrieben ist. Gefragt werden muss allerdings, wie sie diesem Auftrag als Allparteien-Gremium zwischen Politik und Wissenschaft nachkommen kann. Gerade weil die verschiedenen Teilthemen, die das virtuelle Politikfeld »Digitale Bürgerrechte« konstituieren, über mehrere Ressorts verteilt sind, erscheint diese Idee kaum realisierbar. Das Wirtschaftsministerium erklärt mit Unterstützung der Kanzlerin das Internet zum Jobmotor, der Innenminister setzt sich vehement für staatliche Kontrolltätigkeiten ein, die Justizministerin will Entscheidungen der Vorgängerregierung korrigieren, die Ministerin für Verbraucherschutz die Macht der Internet-Konzerne einschränken – wie soll sich die vergleichsweise kleine Enquête-Kommission gegen die entscheidungspolitischen Schwergewichte behaupten? Dennoch birgt die Einrichtung des Gremiums Chancen, schließlich ist dies einer der wenigen Lernorte im Parlament, und wenn sich Abgeordnete und Experten auf das ein oder andere Experiment einlassen, scheint ein Wissenstransfer mehr als nur wahrscheinlich. Sollte der Bundestag tatsächlich Elemente der Kommunikations- und Kollaborationskultur des Social Web in die parlamentarische Arbeit integrieren, würde dies auch auf internationaler Ebene anerkennend vermerkt.
Es ist klar, dass sich eine neue politische Klasse, deren Identität sich aus dem Kommunikations- und Kulturraum Internet speist, auch in absehbarer Zeit nicht formieren wird – zu stark sind die Routinen und Strukturen herkömmlicher politischer Systeme. Und doch deuten die personellen wie organisatorischen Impulse und Entwicklungen darauf hin, dass die Beziehung zwischen Netzgemeinde und politischem System in Bewegung geraten ist. Womöglich ist die auf Gegnerschaft gepolte Wahrnehmung für die Zukunft gar nicht einmal unproduktiv, denn auch erst die Eskalation der Debatte um die Internetsperren hat einem ganzen Bündel netzpolitischer Themen zu mehr Aufmerksamkeit verholfen. Trotzdem hat die explizite Positionierung der Piratenpartei als digitales Gegenüber des analogen Polit-Establishment nach der Bundestagswahl noch keine Debatte über die Zukunft der Mitgliederparteien ausgelöst. Aber das kann ja noch kommen.
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Anmerkung: Christoph Bieber ist Mitglied des Vorstands von pol-di.net e.V., dem Trägerverein von politik-digital.de