England hat seit Tagen mit gewalttätigen Ausschreitungen von Jugendlichen in Großstädten zu kämpfen. Was sind ihre Motive und wie helfen soziale Netzwerke nicht nur den Aufständischen, sondern auch der Gegenbewegung zu den Krawallen? politik-digital.de sprach mit dem britischen Medienwissenschaftler Jonathan Cable.

 

Bild
London nach den Unruhen (George Rex, CC-BY-SA 2.0)

Vier Tage und Nächte in Folge wurden viele englische Großstädte von schweren Unruhen durch jugendliche Randalierer erschüttert. Angefangen hatten die Revolten im Londoner Problembezirk Tottenham. Ein junger Mann wurde dort Ende vergangener Woche von einem Polizisten erschossen. In einem Stadtviertel, in dem es seit Jahrzehnten zu Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und der Polizei kommt, brachte dieser Vorfall das Fass zum Überlaufen und viele junge Menschen begannen zu randalieren. Die Krawalle breiteten sich zunächst in ganz London aus und griffen später auch auf andere Großstädte wie Birmingham, Liverpool und Manchester über. Autos und Gebäude wurden in Brand gesetzt, unzählige Geschäfte wurden demoliert und geplündert.

Jonathan Cable, Doktorand an der Cardiff School of Journalism, Media and Cultural Studies, der sich vor allem mit den Themen Protestkultur und mediale Berichterstattung auseinandersetzt, erklärte im Interview mit politik-digital.de, dass viele der jungen Menschen in der Vergangenheit zu oft das Gefühl gehabt hätten, dass ihre Stimme nicht wahrgenommen werde. Die Stadtteile, in denen die Ausschreitungen besonders schwerwiegend waren, hätten fast alle eine „lange Geschichte mit tiefen und grundlegenden sozialen Problemen“. Oft gäbe es Konflikte zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen, die Arbeitslosenquoten seien besonders hoch und viele Jugendliche fühlten sich von der Gesellschaft ausgeschlossen und hätten nichts zu verlieren, wenn sie an den Krawallen teilnehmen, erklärte Cable. So hätten die Aufständischen nicht etwa ein gemeinsames übergeordnetes Ziel als Gruppe, sondern viele unterschiedliche Einzelinteressen, die von der Wut über das Opfer in Tottenham bis hin zum Wunsch nach einem neuen Paar Schuhe reichten.

Bei der Organisation der Bewegung nutzten die Jugendlichen neben den sozialen Netzwerken Facebook und Twitter hauptsächlich den BlackBerry Messenger (BBM). Rund 40 Prozent der britischen Teenager besitzen ein Handy oder Smartphone der Marke, so dass eine breite Masse mit dem Nachrichtensystem erreicht werden kann. Jeder BlackBerry-Besitzer hat einen eigenen PIN, den er an Freunde und Bekannte weitergeben kann, damit diese ihn kontaktieren können. Die Vorteile des BBM gegenüber Facebook und Twitter sind, dass der Nachrichtendienst nicht nur kostenlos, sondern darüber hinaus ein geschlossenes Netzwerk ist. Zudem lassen sich Nachrichten, im Gegensatz zur SMS, einfacher an Gruppen verschicken. Außerdem gilt der Messenger als äußerst sicher verschlüsselt, so dass eine Überwachung durch die Polizei nur schwer möglich ist. Die Tageszeitung Guardian warf der Polizei jedoch auch vor, sie habe sich bei ihrem Eingreifen auf die falschen Kommunikationswege konzentriert. Zwar habe sich nach dem Tod des jungen Mannes in Tottenham zunächst eine Facebook-Gruppe gebildet und auch auf Twitter wurden einige aufrührerische Nachrichten verschickt, aber die wesentlichen Informationen, mit deren Hilfe man Proteste schon im Vorfeld hätte eindämmen können, seien über BBM versendet worden. Jonathan Cable bestätigt, dass Twitter eher dazu gedient habe, den Verlauf der Aufstände in Echtzeit zu verfolgen, allerdings seien hier auch viele Falschmeldungen verschickt worden.

Der Medienwissenschaftler betont weiterhin: „Die Rolle sozialer Netzwerke im Zusammenhang mit den Protesten wurde überbewertet“. Sie seien zwar ein wichtiges, aber längst nicht das einzige Kommunikationsmittel. Das Blog netzwertig.com berichtete, dass es letztlich egal sei, welche Rolle Facebook, Twitter und BBM gespielt hätten, die Jugendlichen hätten lediglich die ihnen aktuell zur Verfügung stehenden Kommunikationskanäle genutzt, das sollte auch niemanden verwundern. Der Autor des Beitrags Martin Weigert verweist auf die Unruhen in den Vororten Frankreichs in 2005 und in Tottenham 1985. Auch hier sei es zu großen Ausschreitungen gekommen, ohne dass es dazu soziale Netzwerke gebraucht habe.

Im Falle von Facebook und Twitter ist es daher interessanter, die Gegenbewegung unter die Lupe zu nehmen, die sich in den vergangenen Tagen entwickelt hat. Über Facebook-Gruppen organisieren Freiwillige kollektive Aufräumarbeiten. Gleiches geschieht auch unter dem Twitter-Hashtag #riotcleanup. Allein in Manchester versammelten sich dazu gestern mehr als 300 Helfer mit ihren Besen im Stadtzentrum. Organisatorin dieser Aktion war die 18-jährige Jen Perry. Eine andere junge Frau rief ihre Twitter-Follower erfolgreich dazu auf, Kleider zu spenden für alle, deren Häuser angezündet worden sind und die ihre Habseligkeiten verloren haben. Bei flickr werden Fotos hochgeladen von jungen Menschen, die Polizisten Tee und Kaffee bringen. Die Jugendlichen wollen mit diesen Aktionen demonstrieren, dass es sich bei den Randalierern um eine Minderheit handelt und ihre Solidarität gegenüber den Opfern der Ausschreitungen ausdrücken.

Währenddessen arbeiten die BlackBerry-Betreiber seit einigen Tagen mit den Behörden zusammen, um die Kommunikation Verdächtiger nachzuvollziehen. Auch das Online-Auktionshaus Ebay hat der Polizei seine Hilfe zugesichert. Man wolle verdächtige Ware, die mit den Plünderungen in Verbindung zu bringen ist, melden und nötigenfalls auch aus dem Angebot entfernen. Als eher bedenklich ist dagegen das Engagement der Seite „Catch a Looter“ („Fang einen Plünderer“) zu bewerten. Auch hier möchte man der Polizei beim Aufspüren der Kriminellen helfen. Dazu werden Fotos von Aufständischen hochgeladen und die Internetnutzer gebeten, diese zu identifizieren. Das Problem an diesem Vorgehen ist allerdings, dass nicht alle Fotos Menschen eindeutig bei einer Straftat zeigen und so auch unschuldige Passanten ins Visier der Fahnder gelangen können. Das gleiche gilt für die Seite zavilia.com und für die Google-Gruppe „London Riots Facial Recognition“. Letztere benutzt eine Gesichtserkennungssoftware, um die Randalierenden zu identifizieren. Sarah Perez nannte dies in einem kritischen Artikel auf techcrunch.com „Justiz im Croudsourcing-Verfahren“, ein Kommentator in der Berliner Gazette sprach gar von „Selbstjustiz“.

Obwohl letztere Formen der Gegenbewegung einen bitteren Nachgeschmack haben, wird doch eins deutlich: Das Internet und soziale Netzwerke dienen nicht nur den Aufständischen, um sich schnell vernetzen zu können. Viel mehr sogar nutzen sie auch denen, die nach den Unruhen dazu beitragen wollen, dass alle Betroffenen schnell in ihren Alltag zurückkehren und die Krawalle so schnell wie möglich ein Ende finden können. Wahrscheinlich wäre all dies aber auch passiert, wenn es keine sozialen Netzwerke gäbe.

Privacy Preference Center