Politikberater und Netzaktivist Ben Scott schilderte in kleiner Runde die Bedeutung der Neutralität des Internets und forderte Nutzer zum Aktivwerden auf. Wie sich schnell herausstellte, findet das Thema in den Vereinigten Staaten höhere Beachtung als in Deutschland.
In den Redaktionsräumen von Zeit Online fand gestern eine Diskussion mit Ben Scott, der bereits Hillary Clinton in ihrem Amt als Außenministerin beriet und die Organisation Free Press leitete, und Markus Beckedahl von der Digitalen Gesellschaft e.V. über Netzneutralität statt. Die Genese des Begriffs begann, wie Scott unterhaltsam berichtete, im Jahr 2002 mit einem Artikel des Professors Tim Wu, der den Titel „network neutrality“ trägt. Damit war erstmals ein Wort publik geworden, das ein mögliches Problem des Internets beschreibt.
Grundannahme ist, dass die Datenströme im Internet bislang diskriminierungsfrei, also ohne Unterscheidung nach Inhalt, Herkunft, Ziel usw., über die Rechner laufen. Erste Anzeichen dafür, dass die Netzneutralität gebrochen wurde, gab es im Jahr 2005 in den USA.
Wenn der Provider heimlich Fakten schafft
Ein Nutzer aus Oregon konnte plötzlich nicht mehr auf die Angebote eines Internetdienstes zugreifen. Wie sich herausstellte, blockte sein Provider Comcast heimlich die Downloads von dieser Seite. Offiziell leugnete das Unternehmen dies aber.
Es folgte eine von Free Press initiierte PR-Kampagne, eine Beschwerde bei der Regulierungsbehörde FCC und eine Gegenkampagne der Provider. Diese lancierten über den US-Kongress einen Gesetzesentwurf, der den Anbietern umfassende Rechte zur Diskriminierung des Datenverkehrs verliehen hätte.
Die (Internet-)Gesellschaft schläft nicht
Die Nichtregierungsorganisation SavetheInternet.com konnte daraufhin rund 800 Unterstützergruppen gegen das geplante Gesetz mobilisieren, eine der größten Graswurzelbewegungen im Technologiebereich, die vom linken (Move On) bis zum rechten politischen Lager (Christian Coalition) reichte. Den Abgeordneten im Kongress wurde das Thema zu heiß – sie zogen das Vorhaben zurück. Doch das Thema Netzneutralität war nun ins Bewusstsein der US-amerikanischen Öffentlichkeit vorgedrungen.
Der Präsident des Netzes?
Barack Obama setzte als erster Präsidentschaftskandidat das Thema im Wahlkampf 2008 auf seine Agenda und konnte Menschen damit mobilisieren . Nach seinem Sieg im November 2008 verschwand die Angelegenheit zunächst von der Tagesordnung. Erst zwei Jahre später gab es Fortschritte in der Gesetzgebung. Doch zu diesem Zeitpunkt hatten die Demokraten bereits die Mehrheit im Repräsentantenhaus wieder verloren. Aus Sicht Ben Scotts trug dies mit dazu bei, dass die hehren Ziele nur zum Teil erreicht wurden. Heute ist Netzneutralität im US-amerikanischen kabelgebundenen Netz vorgeschrieben, nicht jedoch im kabellosen Netz. Unlogisch – wie Scott resümiert.
Mit kleinen Schritten vorwärts
Gegenüber den Erwartungen, die man in die Obama-Regierung gesteckt habe, sei nicht alles umgesetzt worden, doch bezeichnete Scott den geschaffenen Status quo als „Fortschritt für US-Verhältnisse“. Würde ein Internetanbieter heute versuchen, ein diskriminierungsbasiertes Bezahlmodell einzuführen („pay for play“), würde er riskieren, diese Investitionen im Falle eines Verbots in einigen Jahren zu verlieren. Dies schrecke die Anbieter momentan noch davon ab, die Netzneutralität zu verletzen, doch sei die Lage „gefährlich“, so Scott weiter, denn die Regulierer würden schlafen.
Ein freier Markt schafft keine Freiheit
Das Argument, ein freier Markt würde Netzneutralität garantieren, weil Anbieter mit diskriminierungsbasierten Bezahlmodellen dann nicht im Wettbewerb bestehen könnten, hält Ben Scott für abwegig. Anbieter arbeiteten gewinnorientiert und sie würden am meisten Rendite dann erwirtschaften, wenn sie Investitionen sparen, indem sie ihr Netz nicht ausbauten und sich den durch das erhöhte Datenaufkommen immer knapper werdenden Zugang zum Netz teurer bezahlen ließen. Motto: Wenn du mir mehr zahlst, kommen deine Daten auch schneller durch. Markus Beckedahl wies an diesem Punkt auf die Kampagne „Die Freiheit nehme ich dir“ der Digitalen Gesellschaft hin, die sich in Deutschland mit einem vergleichbaren problematischen Bezahlmodell von Vodafone auseinander setzt.
Öffentliches oder privates Gut?
Scott spitzte die Auseinandersetzung auf folgende Polarität zu: Entweder betrachte man das Internet als öffentliches Gut, das allen zustehe, oder man stufe es als ein privates Gut ein, dessen Vermarktung seinem Eigentümer obliege. Vodafone vertrete in diesem Fall ein „Modell der Knappheit“: Je knapper die Ressource (schneller Internetzugang), desto höher ihr Preis (folglich ein diskriminierungsbasiertes Bezahlmodell). Dem sei das „Modell des Überflusses“ entgegenzusetzen – ergo: diskriminierungsfreier Datenverkehr.
An diesem Punkt wies Scott auf die Bedeutung der Netzneutralität hin: Sie würde nicht nur Meinungsfreiheit, sondern auch Innovationen fördern. Die EU liege auch deshalb in puncto Internet-Innovationen hinter den Vereinigten Staaten zurück, weil sie stärker ins Netz eingreife.
Auf Nachfrage von politik-digital.de, ob er eher Konzerne oder Regierungen als gefährlich für die Netzneutralität betrachte, antwortete Scott, dass in Demokratien die Gefährdung durch den Staat keine Rolle spiele. Vielmehr seien die Gewinninteressen von Firmen im Auge zu behalten. Von politik-digital.de auf die derzeit laufende internationale Konferenz WCIT angesprochen, äußerte Scott, er sehe darin keine Gefahr für die Netzneutralität – wahrscheinlich käme keine Einigung zugunsten einer Regulierung zustande. Ein Problem sieht Ben Scott hingegen darin, dass Staaten versuchen könnten, ihre innenpolitisch motivierten Wirtschaftsinteressen durch eine internationale Netzregulierung durchzusetzen. Wie es aussieht, wird Netzneutralität auch in nächster Zeit ein wichtiges Thema sein, das nicht vernachlässigt werden sollte.