Estland gilt als Musterland der digitalen Modernisierung. Tea Narusberg blickt hinter die Kulissen und zeigt, dass noch nicht alle den Anschluss gefunden haben.

Estland gilt als Musterland der digitalen Modernisierung. Tea Narusberg blickt hinter die Kulissen und zeigt, dass noch nicht alle den Anschluss gefunden haben.

„E“, „mobil“ und „digital“ sind die Lieblingswörter der frischen EU-Bürger: mobiles Parken, eGovernment und digitale Unterschrift. Während der Lichtbildausweis in
ID CardDeutschland ein unverzichtbarer Teil des Alltags ist, wurde er in Estland erst Anfang 2002 eingeführt. Bis dahin gab es nur den Reisepass. Die estnische ID-Karte soll jedoch nicht nur als Identifikationsmittel außerhalb des Internets genutzt werden, sondern vor allem für allerlei Online-Transaktionen.

Personalausweis in Kartenform

Seit August bin auch ich stolze Eigentümerin des hübschen Kärtchen. Momentan kann ich mich damit allerdings nur ausweisen. Für knappe 20 Euro könnte man das ID-Karten-Starterkit kaufen. Dies beinhaltet ein Kartenlesegerät (USB oder COM) und die notwendige Software, um offizielle Unterlagen mit einer digitalen Unterschrift zu bereichern. Es kann auch im Internet bequem und sicher zu Personenidentifikation verwendet werden, zum Beispiel beim einloggen in Online-Banking Portale. Eine Umfrage in meinem Bekanntenkreis ergab aber, dass noch keiner die ID- Karte hat. Nur mein Opa hat eine, weil sein Pass auslief. Den hatte er aber noch gleich mitbestellt, falls er ins Ausland reist. Er wusste ja nicht, dass Mitte April das Gesetz geändert wird und unser neuer Ausweis ab dem 1. Mai auch innereuropäisch gilt.

Einige Ämter hinken der schnellen Modernisierung noch hinterher. Erst am 22. April wurde in der Zeitung Postimees ein tragikkomischer Fall bekannt. Ein Bürger der Stadt Tallinn wollte einen Antrag an eine Behörde auf elektronischem Weg senden und setzte seine digitale Unterschrift. Die zuständige Beamtin konnte die Datei aber nicht öffnen. Nachdem der Antragsteller in einer weitere eMail die Beamtin über die Software und das entsprechende Gesetz informierte, erklärte sie entrüstet, sie habe wichtigeres zu tun, als Programme zu installieren und Traktate von Besserwissern zu lesen. Der Herr möge so lieb sein und seinen Antrag in lesbarer Form schicken.

Die praktische Umsetzung der Entscheidungen unserer jungen Regierung funktioniert nicht immer so gut wie gedacht. Dies hielt Tarmo Kriis, Vorstandsmitglied des Verbandes der estnischen Arbeitgeber und Industriellen, am 15.04 in Postimees Online treffend fest: „Viele Beamten sollten sich überlegen, wie man die Wege kürzen, die Arbeit effizienter gestalten könnte und nicht für das Plaudern mehr Gehalt verlangen.“



Mitmischen online


Unser „Bevölkerungsminister“ ist davon nicht betroffen. Er hat seine Wurzeln in der estnischen Philologie, spricht estnisch, finnisch, russisch, englisch und deutsch und hat eine perfekte
Internetpräsenz. Unter dem Hyperlink Online Services kann man Fragen und Vorschläge an den Minister schicken, und bekommt sachliche und gute Antworten.

Eine weiteres tolles Internetangebot: das
Bürgerportal TOM: „Heute entscheide ich!“ ePartizipation pur! TOM gibt der Bevölkerung die Möglichkeit, in den politischen Prozess reinzuschnuppern. Man kann Gesetzesvorlagen oder Bauvorhaben, die momentan im Bearbeitungsprozess sind, einsehen, kommentieren und neue Ideen einbringen. Leider bin ich in meinem Bekanntenkreis wieder auf Unwissenheit gestoßen: Jeder hat von TOM gehört, aber es noch nie genutzt. Da ist offenbar das Modernisierungsprogramm „Tigersprung“ an ihnen vorbei gegangen. Das offizielle Informationsangebot im Internet rund um Staat und Bürgerschaft ist reichlich. Sogar die Parlamentssitzungen kann man online verfolgen. Nur kennt es noch nicht jeder.

Tigersprung Plus

Das Projekt „Tigersprung“ hatte eigentlich wenig mit Politik zu tun. Seine Aufgabe war die Computerisierung des Bildungssystems. Anderseits sind Politik und Bürgerlehre Teile der Lehrpläne. Genauso wie Informatik. Nachdem die Schulen vernetzt sind, sollen die Computer noch mehr in den Schulalltag integrieren werden, mehr Lernsoftware soll verwendet werden. Ich bin zuversichtlich, dass eines Tages die Esten noch besser über die Möglichkeiten der politischen Beteiligung informiert sein werden. Die Esten zeigen sich aber zunehmend getroffen, wenn sie hören, dass es noch internet-kompetentere Völker gibt als sie. Wir sind nicht besser als alle anderen, aber auch nicht schlechter.

Die Autorin ist in Estland geboren und studiert in Jena Medienwissenschaften.

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