Seit seiner Unabhängigkeit stehen in Estland die Zeichen auf Reform. Ehemalige Staatsbetriebe wurden privatisiert, Märkte liberalisiert und demokratische Reformen durchgeführt. Es besteht kein Zweifel, wo die Reise hin gehen soll: In die EU und zu engeren Beziehungen mit den europäischen IT-Musterschülern – den skandinavischen Nachbarstaaten.
In der Entwicklung nationaler IT Kompetenzen hat das Land in den letzten Jahren keine Mühen gescheut. So sorgte die
estische Regierung für Aufsehen, als sie ihr gesamtes Kabinett vernetzte und alle Kabinettsmitglieder mit
Smart Cards ausstattete – mit dem Resultat, dass sich der Zeitverbrauch bei Kabinettsrunden um ein Drittel reduzierte und der geringere Papierverbrauch eine Einsparung von ca. $90.000 erbrachte.
Dabei ist auffällig, mit wie wenig Aufwand beachtliche Ergebnisse erzielt werden konnten: “Im Gegensatz zum Durchschnitt der OECD-Länder die ca. 1% ihres Bruttosozialproduktes in die Finanzierung ihrer öffentlichen IT Infrastruktur investieren, gehen in Estland derzeit nur 0,2% in solcherlei Investitionen” berichtet Stefan Friedrichs, Projektleiter im Bereich Staat und Verwaltung der Bertelsmann Stiftung.
Doch e-Government in Estland findet nicht nur auf dem Regierungssitz, dem Stenbock Haus statt. Die estländische Regierung sieht in Ihren e-Government Initiativen eine große Chance, auch strukturschwächere Regionen weiter zu entwickeln: “Unsere Aktivitäten zielen in großem Masse darauf, allen Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit zur Nutzung moderner IT Infrastrukturen zu geben. Bis zum Ende diesen Jahres werden alle öffentlichen Bibliotheken im Lande einen Internetanschluss haben, der für alle zugänglich ist” erklärt Mait Heidelberg, Deputy Chancellor im Ministerium für Transport und Telekommunikation. Und damit auch wirklich alle über diesen Service Bescheid wissen, hat sich Estland etwas ganz besonderes einfallen lassen: An jedem Ortseingang steht ein blaues @-Schild, welches darauf hinweist, wie weit es zum nächsten Internetzugang im Ort ist. Auch der Bildungssektor kam nicht zu kurz. Die ”
Tiger Leap Foundation” wurde 1997 gegründet, um jeder Schule in Estland einen Internetanschluss und die notwendige Infrastruktur zur Verfügung zu stellen. Die nationale Regierung von Estland investierte ca. US$ 9,5 Millionen in dieses Programm. Weitere US$ 5,3 Millionen kamen von kommunalen Körperschaften und privaten Unternehmen. Mit Erfolg. Schon im Jahre 2000 besaßen alle Schulen einen Internetanschluss und mehr als dreißig Prozent einen Breitbandanschluss. Bis 2005 will die Tiger Leap Foundation durchsetzen, dass IT-Unterricht Bestandteil aller Lehrpläne wird. Nebenbei kümmert sich Tiger Leap nun auch darum, die Universitäten Estlands besser zu vernetzen.
Die staatlichen Bemühungen bleiben nicht ohne Wirkung: Knapp 25% aller Estländer waren im Jahre 2001 bereits online und 80% der privaten Unternehmen waren vernetzt. Auch international weit verbreitete Vorbehalte, wie etwa Bankgeschäfte online abzuwickeln, kennen die Estländer nicht. “Die Kunden der Union-Pank und der Hansapank, der führende Finanzdienstleister in den baltischen Staaten, erledigen bereits 30% ihrer Bankgeschäfte über das Internet” erklärt Friedrichs. Die elektronische Steuererklärung – in vielen westlichen Ländern noch im Erprobungsstadium – ist in Estland bereits Alltag: “Unsere Bürgerinnen und Bürger nutzen das Angebot, Ihre Steuererklärung online abzugeben, bereits in hohem Masse – da gibt es wenig Berührungsängste” sagt Daniel Vaarik, Direktor des Pressebüros der Regierung von Estland.
Kooperationen mit dem privaten Sektor spielen dabei eine wichtige Rolle. So haben in dem Programm, was übersetzt so viel heißt, wie “look at the world”, private Unternehmen einen Gemeinschaftsfond gebildet, der dazu genutzt wird, um die technologische Entwicklung im Privatsektor voranzutreiben und nationale Standards zu setzen.
Auch innerhalb der öffentlichen Verwaltungen macht sich die zunehmende Vernetzung bemerkbar. “Per Gesetz sind alle öffentlichen Institutionen verpflichtet, einen Internetauftritt zu unterhalten – egal ob Ministerium, Grosstadt oder Kommune” berichtet Vaarik. Er fügt an, dass im Moment daran gearbeitet wird, über eine neue Middleware-Schicht alle Datenbanken der öffentlichen Verwaltung miteinander zu verbinden.
Um die Bürgerinnen und Bürger noch stärker an den politischen Prozess zu binden, wurde erst ein Gesetz geschaffen und dann ein Internetportal: Auf dem Portal ”
Today I decide” können Bürgerinnen und Bürger sich über Gesetzgebungsverfahren informieren und kommentieren – das Gesetz verpflichtet die Legislative zur notwendigen Transparenz.
Wie geht es weiter in Estland? Im nächsten Jahr wählen die Bürgerinnen und Bürger immerhin eine neue Regierung. Wie sieht es da mit der politischen Prioritätensetzung in Bezug auf IT und Internet aus? “Estland wird den eingeschlagenen Weg weitergehen” ist sich Vaarik sicher. “Bis zum Jahr 2004 werden 60% aller Bürgerinnen und Bürger eine Smart Card inkl. Lesegerät besitzen. Diese wird vom Staat subventioniert und für alle erschwinglich sein” fügt er hinzu. Auch am Thema e-voting wird weiterhin gearbeitet – allerdings mit Bedacht: “Wir sind nach wie vor an diesem Thema dran” versichert Mait Heidelberg, “wir werden e-voting aber erst dann anbieten, wenn wir das notwendige Sicherheitsniveau garantieren können.” Vielsagend fügt er hinzu, dass es letztendlich eine Frage des “politischen Willens” sei, wie schnell man diese Entwicklung weiterhin vorantreibt.
Letztendlich, sagt Vaarik habe man in Estland keine andere Wahl: “Wir sind ein kleines Land und auch bei uns ist die Unterhaltung öffentlicher Strukturen nicht billiger als anderswo. E-Government bietet uns die Möglichkeit unseren Verwaltungsbetrieb erheblich effizienter zu gestalten. Unsere Bürgerinnen und Bürger wissen das”.
Erschienen am 07.03.2002
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