Demokratie, Meinungs- und Redefreiheit ohne Internet ist im ehemals sowjetischen Litauen nicht mehr vorstellbar. Die Kommentarfunktion bekannter Nachrichtenseiten hatte Vorbildcharakter für neue Portale. Kommentieren im Internet wurde zum festen Bestandteil politischer Kultur in Litauen. Internet-User wurden zum aktivsten Teil der Gesellschaft.

Demokratie ist wie Wein – je älter desto besser. Die Qualität einer Demokratie ist leicht zu bestimmen: es genügt, den Jahrgang ihrer Einführung zu betrachten. Die drei baltischen Staaten – Estland, Lettland und Litauen – sind die einzigen unter den neuen EU-Mitgliedern, die voll in das Sowjet-System integriert waren.

Im Gegensatz zu anderen neuen EU-Mitgliedern aus dem sogenannten “Ostblock”, mussten die baltischen Staaten nach dem Zerfall des Sozialismus ihr Leben vollkommen neu ordnen. Zu Beginn der 90er Jahre hatten alle drei Länder schlechte Startbedingungen. Besonders erfolgreich verliefen Verwaltungs- und Wirtschaftsreformen. Im Vergleich zu anderen Ostblockstaaten stehen sie inzwischen recht gut da.

Neue Technologien sind nicht nur eine zusätzliche Triebkraft der demokratischen Entwicklung. Sie sind auch ein Mittel, um diese Entwicklung darzustellen. In Litauen ist Demokratie ohne Internet nicht mehr vorstellbar. Die politische Welt der kleinen Republik, die keine 3,5 Mio. Einwohner, aber 600.000 Internetbenutzer zählt, hat sich in den letzten Jahren im virtuellen Raum stark ausgebreitet.



Vox Populi Vox Dei – Wunder und Erfolg der Onlinemedien in Litauen

Im Februar 2004 feierte das erste Internet-Tagesmagazin Litauens, „
Delfi.lt“, sein fünfjähriges Jubiläum. Obwohl die Qualität des litauischen Internetpioniers heute sehr umstritten ist und zahlreiche virtuelle Konkurrenten bekommen hat, würde kaum ein Litauer den Einfluss des „Volksportals“ auf die politische Kultur Litauens in Frage stellen. Delfi.lt gibt gegenüber allen anderen zivilgesellschaftlichen Medienportalen weiterhin den Ton an. Sie bleiben eine Variationen des „guten alten Delfi.lt“. Das Erfolgsrezept von Delfi.lt steckt hinter dem Begriff „Vox Populi Vox Dei“. Alle Meldungen lassen sich kommentieren.

Anderswo wäre dieses Wunder doch keines

Viele Nachrichtenportale bieten ihren Nutzern Foren, Onlineumfragen und die Möglichkeit, Artikel zu kommentieren. Trotzdem bleiben die Artikel und Nachrichten der wichtigste Teil der Portale. Sie werden fast nur deswegen besucht. Online-, TV und Printmedien konkurrieren auf derselben Ebene. Auch wenn die Nachfrage nach Kommentaren nicht so hoch ist wie nach Berichten, ist die Wirkung von Delfi.lt revolutionär.

Das Volk lernt sich kennen

Viele Jahrhunderte standen die Litauer unter dem Einfluss fremder Kulturen. Die Besetzer unterdrückten gesellschaftliche Diskussionen über das Staatswesen. Das Thema der Beeinflussung fremder Kulturen blieben Sache der intellektuellen Elite. Man verschloss sich, um die eigene Sprache, Kultur und Revolution zu erhalten. Die Verschlossenheit verwandelte sich in die Geschlossenheit des Volkes. An dessen Spitze stand die intellektuelle Elite. Das Volk stimmte ihr zu, auch wenn es nicht der gleichen Meinung war.

Vor fünf Jahren begannen die ersten Litauer, Nachrichten zu kommentieren. Es war erstaunlich, wie viel die Menschen zu sagen hatten.

Das “Netz des Volkes” wird digital

3,5 Mio. Einwohner sind wahrscheinlich nicht genug, um eine gewisse Anonymität in der Gesellschaft zu gewährleisten. Es gibt Witze und Sprichwörter darüber, dass Litauen ein großes Dorf sei, wo viele einander kennen und alle miteinander verwandt sind. Sogar in der Hauptstadt Vilnius, die etwa 600.000 Einwohner hat, sind zufällige Begegnungen im Stadtzentrum eher der Regel als die Ausnahme. Informationen über politische Ereignisse, über Entscheidungen und ihre Hintergründe kursieren in der Bevölkerung in hoher Anzahl, da Politiker und Lobbyisten auch Verwandte und Freunde haben.

Die Popularität von Delfi.lt stieg ständig. Kommentare im Internet wurden Teil der politischen Kultur Litauens. Für viele war Delfi.lt die Informationsquelle, um sich eine „ehrliche Meinung“ zu bilden.

Vox Politicos vs. Vox Populi – Mit virtuellem Gruß! Ihre Wählerschaft



Bevor der nationale virtuelle Raum zivilgesellschaftliche Eigenschaften erhielt, konnten sich nur Politiker, Politologen oder Sozialforscher öffentlich über die Stimmung in der Gesellschaft unterhalten. Sie neigten dazu, ihr Idealbild einer Gesellschaft zu erörtern. Es gelang ihnen jedoch nicht, die Ergebnisse der nächsten Wahlen vorherzusagen oder Reaktionen auf die aktuelle Politik abzubilden.

Deswegen “sympathisierten” Politiker zumindest auf offizieller Ebene mit dem Volk. Bis sie lasen, welche Kommentare die Bürger über die litauische Politik und über ihre Mitbürger schrieben. Wer konnte ahnen, dass es so viele Juden-, Homo-, Amerika-, Russland- usw. -phile und -phobe gibt?

Plötzlich richteten alle ihre Aufmerksamkeit auf das Internet. Die Kommentare und Diskussionen im Netz wurden spannender als die Nachrichten selbst. „Delfi.lt“ goss Öl ins Feuer und setzte alles daran, dass die Artikel noch mehr Diskussionen hervorriefen. Die Kommentare gewannen eine neue Bedeutung. Es ging nicht mehr nur um den Artikel, sondern um alles, was die Menschen aussprechen wollten.

Die ersten digitalen Jahre

Vor 5 Jahren wurde das politische Internet Litauens von zwei Richtungen geprägt. Die Anonymität der Kommentierenden und die Popularität von Delfi.lt führten dazu, dass jede Nachricht und Tatsache von verschiedenen Seiten betrachtet wurde. In den Kommentaren bekam man auch Vermutungen zu lesen, die zu kühn waren, um von Medien selbst publiziert zu werden. Sie halfen trotzdem, die verschiedenen Seiten einer Situation darzustellen. Wenn es um bestimmte Ereignisse ging, gab es immer Menschen, die darüber auch aus erster Quelle berichten konnten.

Die Leser gaben so in einer nicht unbedeutenden Weise journalistische Nachhilfe, was die Qualität der Nachrichten förderte.

Für Leser trägt der Begriff „Objektivität“ eine andere Bedeutung als für Journalisten. Durch das populär gewordene Kommentieren von Nachrichten im Internet wurde ein Weg zum Verständnis des gesellschaftlichen Interesses entdeckt. Jeder konnte sich auf die Meinung der Internetbenutzer, die als aktivster Teil der Gesellschaft galten, berufen und ein aktuelles Thema, das das Volk „wirklich“ bewegte, besprechen.

Mit den Schlagworten „Die Realität ist nichts, die Vorstellung ist alles“ wurde eine neue Etappe eingeläutet. Diese Entwicklung hält bis heute an. Die wichtigste Frage lautet jetzt: „Wessen Vorstellung ist alles?“

Diese Frage ist die Folge der zweiten Tendenz, die ebenfalls von der Stimmung und der Atmosphäre der digitalen Politik geschaffen wurde:

radikale Meinungen, offene Intoleranz und Gedanken, die von der offiziellen oder dominierenden Position abweichen. Im Internet kam es zur Konfrontation zwischen Parteien, Städten und Geschlechtern.

So wurde der Begriff der „Zuckerrübe“ geboren, der „Provinzielle“ bezeichnen sollte. Er wurde sogar von vielen Politikern benutzt, um den Unterschied zwischen „pflichtbewussten“ und „provinziellen“ Wählern zu betonen. Die Journalisten standen dem in nichts nach und erörterten das Thema „Zuckerrüben und Elite“. 2004 wurde der im Vorjahr von den „Zuckerrüben“ gewählte Präsident von der „Elite“ entlassen. Das erste erfolgreiche Amtsenthebungsverfahren gegen einen europäischen Präsidenten spiegelte dabei auch die Situation im Internet wider. Das Internet reflektierte im Gegenzug die Probleme der Gesellschaft.

„Die Welt ist arm, der Mensch ist schlecht“

So sprach Peachum zu seiner Tochter Polly in Brechts „Dreigroschenoper“. „Der Staat ist arm, der Wähler ist schlecht“ würden viele litauische Politiker ergänzen. Doch sie vergessen dabei, dass sich beide “Wahrheiten” auch auf sie selbst beziehen. Nach den letzten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2004 verlor das Kommentierungssystem in Litauen an Bedeutung. Das größte Portal „Delfi.lt“ verwandelte sich vom gemütlichen antiken Athen, wo relevanten Themen diskutiert wurden, in ein gesichtloses und unübersichtliches Megastadtviertel. Wie ein Schatten hängt es im Hintergrund der wichtigen Ereignisse und bleibt doch unbemerkt.

Während der letzten Wahlen waren die Kommentare das Schlachtfeld der Parteien und der verschiedenen radikalen Gruppen, die wegen der Popularität des Portals Delfi.lt ihre Meinungen im Internet am effektivstem veröffentlichen könnten. Die Freiheit der Meinungsäußerung kann sich jedoch auch in etwas Unattraktives entwickeln, wenn man ständig nur nach Freiheit strebt, ohne sich um die Meinung selbst zu kümmern.

Frischer Wind für Kommentare?

Neue Onlinemedien wie „Omni.lt“ und „Bernardinai.lt“ erschienen und gewannen schnell an Popularität. Sie pflegen die Praxis der Kommentare weiter und einen neuen Trend gesetzt: professionelle Kommentare. Sie sind zur Tribüne für Politiker und Promionente geworden. Wie früher ersetzen Kommentare für viele Leser die Nachrichten. Sie hemmen aber die Entwicklung einer weblog-Kultur. Im Augenblick erscheint dies auch als eine normale Entwicklung. Dynamische Diskussionen sind notwendig. Da es noch zu viele Probleme und Lösungsansätze gibt. Es ist spannend zu kommentieren und eine globale Diskussion im lokalen Bereich mit allen Usern zu führen. Die Kommentarkultur Litauens befindet sich noch auf ihrem Höhepunkt. Es ist schwer zu sagen, wie viele anonyme Internetnutzer und wie viele Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens gerade Kommentare schreiben und darauf hoffen, kommentiert zu werden.