Ökonomisches Denken habe unser Bildungssystem zur Wissensmaschine degradiert, beklagen viele. Soziale Kompetenzen und die Fähigkeit kritisch zu denken blieben deutlich auf der Strecke. Ohne Frage: Es gibt Reformbedarf. Aber ist Effizienz mit ganzheitlichen Bildungs-Ansätzen wirklich unvereinbar?
Beim Gedanken an Schule und ihre Methoden fällt nicht wenigen wohl der Begriff des “Bulimie-Lernens” ein. Pauken und wieder ausspucken. Ein Konzept, das, obwohl häufig kritisiert, an den staatlichen Schulen immer noch Alltag ist. Obwohl schon Einstein wusste: Die Fähigkeit, eine große Menge an Fakten zu erlernen und dann unter Druck wiederzugeben, kann keineswegs einziger Indikator für gute Bildung sein. Diese Einsicht hat in den letzten Jahrzehnten in einigen Teilen der Gesellschaft zu einer mentalen Gegenbewegung geführt, die als Antwort eine radikale Bildungsreform fordert. Eine Reform, die gelegentlich gerne an Visionen der 60er und 70er Jahre erinnert. Selbstbestimmung, kritisches Denken und soziale Fähigkeiten sollen wieder Vorrang haben, denn man nimmt an: Die einseitige Fokussierung auf prüfbares Wissen sei eine Folgeerscheinung der Ökonomisierung aller Lebensbereiche.
Bildungssystem bereitet unzureichend vor
Gerne schwingt hier auch der unterschwellige Tenor einer kleinen Verschwörung “von oben” mit. Regierung und Wirtschaft, ein unheiliges Paar des Neoliberalismus, das die Fähigkeit zur Reflektion mit Hilfe des Schulsystems unterdrückt und die Schüler*innen durch psychologischen Druck an den Anpassungszwang des spezialisierten Arbeitsmarktes gewöhnt. Dabei sieht die Realität anders aus: Deutschland konnte sich seit Beginn der weltweiten PISA-Studien-Erhebung im Jahr 2000 gegenüber skandinavischen Länder mit innovativen Modellen und großer Experimentierfreudigkeit, aber auch gegenüber asiatischen Staaten wie etwa Korea nicht durchsetzen und rangiert seitdem immer im MIttelfeld. Das bedeutet im Umkehrschluss jedoch nicht, dass Struktur und didaktische Konzepte des deutschen Bildungssystems völlig an den Erfordernissen der wirtschaftlichen Know-How-Anforderungen vorbeilaufen. Sie sind dennoch nach momentanem Stand weder die perfekte Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt, noch werden in der Schule jene Kompetenzen ausreichend vermittelt, die Schüler*innen zu einem sozial verantwortlichen und selbstbestimmten Mitglied der Gesellschaft erziehen.
Digitale Datenspeicherung macht Auswendiglernen überflüssig
Die Frage danach, wie Bildung gestaltet werden sollte, hängt immer auch vom kulturell-historischen Kontext ab. Über die Jahrhunderte haben sich die unterschiedlichsten Bildungstheorien entwickelt, die dennoch alle eines gemeinsam haben: Sie sehen Bildung als ganzheitliches Projekt der “Menschwerdung” an, in dem Wissen eine der wichtigsten Säulen darstellt. Der selbstverständliche Einzug digitaler Technologie in alle Gesellschaftsbereiche verändert jedoch nachhaltig das Anforderungsprofil moderner Bildung. Denn besonders die technischen Möglichkeiten unserer Zeit haben etwa dazu geführt, dass das faktenbasierte Wissen, auf dass sich Schulbildung lange Zeit fokussierte, heute in Form von Daten auf Servern und Clouds lagert. Jederzeit abrufbar, immer präsent. Und genau diese Tatsache macht die Fähigkeit, detaillierteste Informationen des Schulstoffes aus dem Gedächtnis abzurufen, bis zu einem gewissen Punkt überflüssig. Auf der anderen Seite erfordert die Digitalisierung den Erwerb neuer Kompetenzen und Fähigkeiten. Um dem gewachsen zu sein, müssen bildungspolitische Voraussetzungen für die Vermittlung neuer (auch digitaler) Kulturtechniken geschaffen werden.
Mut zu weitreichenden Reformen fehlt
Das ist keine neue Erkenntnis. Viele Pädagog*innen und Politiker*innen machen seit Jahren darauf aufmerksam. Nicht wenige ziehen daraus jedoch den Fehlschluss, wirtschaftliche Interessen seien schuld daran, dass Auswendig-Lernen immer noch Hauptbestandteil von Schulbildung sei. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall. Verantwortung im Job und Privaten lässt sich nur durch eine Vermittlung gesamtheitlicher Kompetenzen in dementsprechenden Bildungsmaßnahmen erreichen. Nicht umsonst legen Arbeitgeber*innen immer weniger Wert auf Schulnoten, sondern betrachten vor allem Eigeninitiative und Teamfähigkeit als bedeutend wichtiger. Es sind vielmehr starre Strukturen und fehlende finanzielle Mittel, die Veränderungen im Schulsystem verhindern. Es fehlt der Mut zu weitreichenden Reformen. Im Klein-Klein des dezentralen Föderalismus herrschen überbordende Bürokratie und Fachpersonalmangel vor. Hierzu kommen Sachzwänge sowie konkurrierende Vorstellungen, von dem was Schule eigentlich leisten sollte. Bildung ist ein heißes Thema, dem politische Durchsetzungskraft und Gradlinigkeit fehlt. Unternehmen hingegen sind hier freier als staatliche Institutionen, denn ihr Überleben ist mehr denn je von innovativen Ideen abhängig. Gleichzeitig fungieren sie als Arbeitgeber und holen junge Menschen am Ende ihrer schulischen Bildung in ein neues Umfeld.
Zwischen Kreativ-Tanz und Bulimie-Lernen
Zeitgemäße Bildung bedeutet daher auch, eine Schnittstelle zwischen Schule und Arbeitsmarkt zu schaffen. Den Unterricht modern und dynamisch gestalten und dabei Kompetenzen der Schüler*innen auf allen Ebenen zu fördern. Die Entwicklung zum selbstbestimmten Individuum in einer sozialen Gemeinschaft zu begleiten. Das gesellschaftliche Anforderungsprofil, also das was nötig ist, um eigene Potentiale auszuschöpfen und das “Miteinander” gestalten zu können, widerspricht keineswegs den Anforderungen der modernen Arbeitswelt. Vielmehr sind es zahlreiche Überschneidungen, die deutlich machen, warum das Thema Bildung in einem Schwarz-Weiss-Gegensatz kaum gedacht werden kann. Die Pole zwischen Waldorf-Schule und staatlichem Gymnasium, zwischen Kreativ-Tanz und Bulimie-Lernen. Sie spalten unsere Gemüter und verleiten uns dazu, nicht ins Auge zu fassen, was eigentlich möglich wäre.
Bildung darf keine Blase sein
Denn: Jetzt ist genau der richtige Zeitpunkt, um angemessen zu reformieren. Mithilfe der technischen Möglichkeiten, die digitale Instrumente bieten, könnte sich der Fokus endlich auf jene Bereiche erstrecken, an denen es seit Jahren hapert: Mitbestimmung und Partizipation, Reflexion, selbstständiges Arbeiten und nicht zu guter Letzt Kommunikation. Transferaufgaben und Projekte könnten hier etwa einen Großteil der schulischen Bildung ausmachen. Dabei muss und sollte nicht vollständig auf einen gewissen Druck verzichtet werden, denn Noten sind immer auch Anhaltspunkte, anhand derer Schwächen und Stärken gut herausgearbeitet werden können. Vielmehr geht es darum, die richtigen Bewertungskriterien anzusetzen. Dafür zu sorgen, dass Schulstoff im späteren Leben auch wirklich Relevanz besitzt. Denn nur dann ist Bildung wirklich effizient und keine Blase ohne Anschlussfähigkeit mehr.
Titelbild: Education is All, by Alan Levine on Flickr, CC BY 2.0
Text: CC-BY-SA 3.0