Ob privat, halb-öffentlich oder kommerziell – mit Online-Gewinnspielen wird kräftig am WM-Boom partizipiert.
Als bekennender WM – Liebhaber hat man es nicht leicht. Dringende Terminsachen sind zu erledigen: das Vervollständigen der Duplo-Spielerbildchen, um den heimischen Fernsehaltar zu schmücken; die Essens-Logistik in den kurzfristig einberufenen WM-Studios; die spontane und trotzdem vorausschauende Auswahl einer geeigneten Kneipe zum Premiere-Gucken mit den richtigen Leuten. Ein besonderes Procedere aber versüßt und verschärft diesen sozialen Stress: die WM-Tipp-Runde. In der Prä-Excel-Ära herrschte noch eine Zettelwirtschaft, die eine besondere Sorgfaltspflicht des gewählten Schriftführers erforderte. Heute übernehmen das ausgefuchste, per Email verschickte Dokumentvorlagen, die geographisch weit versprengte Tippgemeinschaften ermöglichen. Gerade dabei gilt es jedoch das Kleingedruckte zu beachten: so hatte der Schreiber dieser Zeilen übersehen, dass das aus England übernommene Regelwerk nur die Ergebnisse bestimmter Spiele prämiert – und prompt war das wagemutig vorhergesagte 4:0 der Brasilianer gegen die Chinesen (bei der schlechten Qualifikation!) schnell für die Katz.
Das Schöne an solchen Peer-Group-Systemen ist, dass sie eine sozial abgefederte Risikolage anstreben. In unserem Fall gewährt der Jackpot (Einsatz: 10 Euro) dem Erstplazierten 50% der Börse, dem Zweit- und Drittplazierten immerhin noch 33% bzw. 17%.. Für kurzfristige Irritationen sorgte die zusätzliche Spielregel, die jeweiligen Gruppenersten vorherzusagen. Denn in der Logik der Punktesteigerung ab dem Achtelfinale – fast so etwas wie ein ehernes Gesetz von WM-Tipp-Systemen – macht es eigentlich nur Sinn, auch den jeweiligen Gruppenzweiten zu prognostizieren, weil sich ja erst daraus die K.O.-Paarungen und der weitere Weg gemäß dem Tableau ergeben. Ohne großes Murren wurde die Modifikation akzeptiert.
Browst man durchs Netz, stößt man auf teils liebevoll aufgezogene Tipprunden unter Bekannten bzw. “vertrauensvollen Mitspielern”. So verspricht beispielsweise das
Ehepaar Reiher das “ultimative Wettspiel” zur WM. Mit einem moderaten Mindesteinsatz von drei Euro ist man dabei. Wie betont wird, versteht sich das Ganze ausdrücklich als Non-Profit-Veranstaltung, allein ein Euro wird zur Deckung der Unkosten (Telefongebühren, Kopien) abgezwackt. Neben den herkömmlichen Wetten auf die 64 Spiele gibt es sechs so genannte Sonderwetten: die Weltmeisterwette, die Finalwette, die Bronzewette, die Gruppensieger-Wette, die Loserwette (Welches Team erzielt die wenigsten Tore?) sowie die Zehnerwette (Zu welchem Zeitpunkt des Turniers scheiden zehn im Tipp-Formular angegebene Teams aus?). Ein ziemlich kniffliges WM-Quiz, eine Rückschau auf die EM 2000 (zwecks Taktikschulung zur Gewinnoptimierung) sowie Fakten zu
David Beckham runden die professionell gemachte Wett-Site ab.
Als ideeller Gesamttrainer eines globalen Dream-Teams darf man sich beim
“Kicker” fühlen, wo an der internationalen Spielerbörse investiert werden kann. Aus den 736 gemeldeten Ballartisten bildet der Zocker einen Kader von 23 Spielern. Nach dem Vorbild des beliebten Bundesliga-Manager-Spiels wird der berüchtigte, nach streng “objektiven” Kriterien erstellte Kicker-Notendurchschnitt für die Spieler dann in Punkte konvertiert. Allerdings gibt es im Unterschied zur Bundesliga kein Budget, mit dem etwa Shooting Stars oder sich aufdrängende Jungtalente später dazugekauft werden können. Schließlich ist das hier eine WM und kein Juxturnier. Als Gewinne winken Geldprämien und gruselige Give-Aways wie das Trikot der deutschen Nationalmannschaft (vermutlich das mausgraue) sowie eine Mini-Nachbildung der World Cup Trophy.
Der diskrete Charme des heimischen Tippens wird von den kommerziellen Anbietern zwar anvisiert, aber meistens zielsicher verfehlt. So ziemlich alle großen Portale versuchen, etwas vom großen WM-Werbekuchen abzubekommen. Dagegen wirkt die Aufrichtigkeit der professionellen Wett-Unternehmen fast rührend. Platzhirsch
Oddset arbeitet bei der normalen Kombiwette mit festen Gewinnquoten sowie dem althergebrachten Toto-System, das die Werte 1, 0 und 2 den Ergebnissen zuordnet. Bei der Entscheidungsfindung soll ein Trend-O-Meter helfen, der z.B. über Saudi-Arabien zu berichten weiß, dass “die Scheichs nur ungern verlieren”. Der niederrheinische Mentalitätsphilosoph Günter Netzer hätte es in der
ARD wohl nicht anders gesagt. Die exakte Ergebnisvorhersage bringt hier keine Extrapunkte, dafür kann bei einem Zusatzspiel die Torsumme der Paarung geschätzt werden. Mathematisch ebenso avanciert ist die so genannte Handicapwette. Dabei ist nicht allein Sieg, Unentschieden oder Niederlage von Bedeutung, sondern in besonderem Maße auch das Ergebnis. Es erhält eine Mannschaft einen Vorsprung von einem oder mehreren Toren/Punkten. Dieser wird zu den tatsächlich erzielten Toren/Punkten hinzugezählt und ergibt dann den richtigen Tipp. Fragt sich nur: Warum sollte man Senegal, Südkorea oder den USA überhaupt noch ein Handicap einräumen, wenn – wie zu beweisen war – der Weltfußball keine “Fußball-Zwerge” mehr kennt?
Der Anbieter
Severin hält es ebenfalls mit dem konservativen Tippen. Für die richtige Tendenz gibt es einen, für das exakte Ergebnis zwei Punkte. Ab dem Achtelfinale belohnen Multiplikatoren die prophetische Kraft selbst ernannter Experten. Durch ihren drögen Seitenaufbau wird es diese Website allerdings schwer haben, genügend Wetteinsätze zu erzielen. Etwas außer Konkurrenz läuft das Web-Angebot des
Deutschen Fußball-Bundes, wo die richtigen Aufstellungen vorhergesagt werden müssen. Bei ausgelobten Kostbarkeiten wie der “DFB-Chronik 1900-2000” tut es nicht wirklich weh, das dafür erforderliche Insider-Wissen von Michael Skibbe nicht erbringen zu können.
Andere Websites wie
www.weltmeisterschaft2002.de oder
www.wm-gewinnspiele.de erweisen sich trotz einschlägiger Domain-Namen alsbald als zweifelhafte Profiteure der momentanen WM-Begeisterung. Bei Quizfragen wie “Wer wurde 1998 Fußball-Weltmeister?” könnten selbst US-amerikanische Baseball-Statistiker reüssieren, denen der Politologe
Andrej S. Markovits in seinem neuesten Buch “Offside: Football and American Exceptionalism” eine kulturelle Abseitsstellung attestiert. Mit Blick auf die gegenwärtige Situation in der WM-Gruppe D dürfte allerdings auch diese Erkenntnis bald ad acta gelegt werden.
Was immer die Motivation dafür sein mag, sein mühsam Erspartes in eine Immobilie namens Rumpelfüßler zu investieren – das Wettspiel ist eine allzumenschliche Konstante. Schon Schiller schrieb in seinem Essay “Über die ästhetische Erziehung des Menschen”: “Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.” Oliver Kahn, einziger deutscher Anwärter auf einen festen Platz im Kicker-WM-Kader, sagte es neulich im
ZDF-Interview etwas anders: “Wer verlieren kann, hat im Sport nichts verloren.