Wie die deutschen Patienten und das Internet ganz nebenbei das Gesundheitssystem verändern, demokratisieren und bereits Selbstverantwortung übernehmen. Ein Bericht des eHealth-Experten Frederik Tautz.
Im Rahmen der aktuellen Debatte um die Gesundheitsreform mehren sich die Stimmen, die einen konzeptionellen Systemwandel für die Gesundheitsversorgung in Deutschland fordern. Kernstücke: Übernahme von mehr Selbstverantwortung durch den Einzelnen und größere Eigenbeteiligung der Patienten. Für eine bereits seit Jahren wachsende Zahl von Patienten ist diese Forderung alles andere als revolutionär: Ganz selbstverständlich erfüllen sie schon heute die Forderungen nach mehr Eigenverantwortung des Einzelnen im Gesundheitssystem. Es ist jedoch nicht der grundlegende Systemwandel, den sie dabei im Sinn haben. Ihr Verhalten folgt lediglich zwei großen Trends. Erstens: Es entwickelt sich ein zunehmendes Verständnis dafür, dass durch eigenes Handeln Gesundheit und Krankheit beeinflusst werden können. Zweitens: Es wächst zunehmend die Angst der Patienten, im falschen Abteil der Zweiklassen-Medizin aufzuwachen, d.h. aus Kostengründen oder weil der behandelnde Arzt die allerneuesten Therapieempfehlungen nicht kennt, nur eine Therapie zweiter Wahl zu erhalten. Also versuchen Patienten durch vermehrte Eigeninitiative sicherzustellen, dass sie die bestmögliche Therapie im Fall der Fälle erhalten.
Emanzipation der Patienten führt zu einer Veränderung der Inanspruchnahme des Gesundheitssystems
Um selbstverantwortlich Entscheidungen für die eigene Zukunft treffen zu können, benötigen die Patienten ausreichende Informationen über die verfügbaren Optionen – und die Folgen ihrer Auswahl. Diese waren bisher ausgesprochen schwierig zu beschaffen. Doch genau jenes Wissen verspricht nun das Internet. Folglich bedienen sich immer mehr Patienten aus dem fast unendlichen Repertoire des Netzes. Mittlerweile jeder fünfte Patient (je nach Studie sogar jeder zweite) sucht im Internet Antworten auf seine Gesundheitsfragen. Dazu recherchieren er oder seine Angehörigen im Internet die neuesten Behandlungsleitlinien der medizinischen Fachgesellschaften, die aktuellsten Forschungsergebnisse der Universitäten oder die Leistungsfähigkeit einzelner Leistungserbringer. Haben Patienten auf Grundlage dieser Informationen für sich Entscheidungen getroffen, fordern sie von ihren Ärzten, auch an den Entscheidungen über ihre Therapie als gleichberechtigte Partner mitzubestimmen. Leistungserbringer, die nicht bereit sind, den Wünschen ihrer Patienten angemessen zu begegnen, werden schnell mit Missachtung gestraft. Einen anderen Spezialisten oder eine alternative Klinik zu finden, erleichtert wiederum das Internet. Dieses Verhalten führt zum einen zu einer veränderten Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen durch die veränderte Erwartungshaltung („Machen, was möglich ist“). Zum anderen verändern sich die Patientenströme – es entsteht eine Sogwirkung hin zu den jeweiligen Koryphäen (Stichwort: „Focus-Ärzteliste“) oder den „Marken“ im Gesundheitsbusiness. Denn jeder will für sich den besten Arzt, die beste Klinik, die neueste Therapie. Die Folgen für das Gesundheitssystem aus einem kollektiven Handeln nach diesem Raster werden die wenigsten Patienten und Angehörigen interessieren. Und wenn doch, so werden sie billigend in Kauf genommen. Die Gesundheitsreform könnte damit ein Kollateralschaden des individuellen Strebens der Patienten nach der besten Medizin werden.
Globale Information verlangt nach lokalem transparentem Diskurs über die Allokation knapper Ressourcen
Bei ihrer Suche nach medizinischen Informationen, die sie bei der Entscheidungsfindung in Gesundheitsfragen unterstützen sollen, finden die Patienten natürlich nicht nur Informationen aus Deutschland. Sie bedienen sich im Internet aus einem globalen Wissenspool. Patienten und Angehörige führt ihre Recherche im Netz zu Quellen aus den USA oder dem europäischen Ausland. Sie erleben dabei zum einen eine Vergleichbarkeit der Lebensumstände und eine Vergleichbarkeit der Krankheitserfahrung, zum anderen aber eine Ungleichheit in der medizinischen Versorgung. Der globale Vergleich über das Internet hilft den Patienten zu erfahren, was prinzipiell in der modernen Medizin der Industriestaaten machbar ist. Je größer die Diskrepanz zwischen diesem gewussten international „Machbaren“ und dem persönlich erlebten „Gemachten“, desto schärfer werden die Fragen der Patienten nach dem Grund dafür sein. Diese Fragen werden die meisten Patienten ihrem Arzt oder ihrer Versicherung stellen. Doch dort sind sie fehl am Platze. Diese Antworten kann in einem solidarisch finanzierten System nur die Gemeinschaft der Versicherten liefern – und das sind gut 90 Prozent aller Bürger in Deutschland. So schmerzhaft das sein mag, die Antwort muss klären, wie viel des medizinisch maximal Machbaren wir uns für jeden leisten können und wollen. Dies setzt einen grundlegenden gesellschaftlichen Diskurs voraus. Vielleicht können und wollen wir uns als Gemeinschaft ja sogar mehr Medizin leisten, als gemeinhin angenommen wird? Führen wir diesen notwendigen Diskurs nicht, lassen wir Patienten und Ärzte alleine mit der Aufgabe, ein grundlegendes Dilemma unserer Gesellschaft jeden Tag erneut lösen zu müssen. Je mehr Menschen die Chance der höheren Eigenverantwortung wahrnehmen, sich wirklich um ihre Optionen kümmern und kundig machen über medizinische Leistungsmöglichkeiten, desto dringender wird diese bislang in der breiten Öffentlichkeit ungeführte Diskussion werden. Dabei beschleunigt die Diskussion um die Gesundheitsreform selbst noch zusätzlich diese Entwicklung hin zu mehr Eigenverantwortung . Denn wer als Patient bisher noch nicht aus freien Stücken mehr Selbstverantwortung für seine Gesundheit übernommen hat, der wird nun von der Gesundheitspolitik Stück für Stück in die Emanzipation gezwungen.
Die Glaubwürdigkeitskrise des solidarischen Gesundheitssystems
Ein vernetztes System aus globalen Informationsströmen zwingt nicht nur die eigentlichen Leistungserbringer dazu, gegenüber den Patienten mehr Rechenschaft über ihr Handeln abzulegen, sondern fordert Gleiches auch von der Gesundheitspolitik. Die Patienten werden nicht nur von ihren Ärzten wissen wollen, ob die für sie gewählte Therapie in Einklang mit den neuesten, weltweit verfügbaren Forschungsergebnissen steht. (Und die Patienten werden das Internet zu nutzen wissen, um die Antworten zu überprüfen.) Patienten werden auch von den Akteuren der Gesundheitspolitik wissen wollen, warum gerade sie nicht an den neuesten Therapieformen teilhaben können, die im Ausland längst verfügbar sind. (Hier wird ihnen das Internet ebenfalls die Möglichkeit geben, sehr genau zu erfahren, was anderenorts möglich ist.) So wie ein Arzt unglaubwürdig wird, wenn
er seinem Patienten keine schlüssige Antwort auf die Frage nach der Aktualität und Angemessenheit seiner Therapieempfehlung geben kann, wird auch ein ganzes System in Frage gestellt werden, wenn es uns nicht gelingt, den Patienten auf die – berechtigte – Frage nach der Verfügbarkeit von Leistungen angemessene Antworten zu liefern. Angemessen heißt: Die Antworten müssen nachvollziehbar sein und auf transparenten Entscheidungen gründen, die von der Mehrheit der Gesellschaft getragen werden. Nur das ist einer Demokratie angemessen.Vielleicht kann das Internet helfen, die dafür notwendige Diskussion zwischen Bürgern, Beitragszahlern, Patienten, Ärzten, Kassen und Politikern zu führen.
Die Grafiken sind dem Artikel
„Wir sind das Volk!“ entnommen, erschienen im Weißbuch des Forum Healthcare.
Frederik Tautz, M.A., ist Autor des Buchs „E-Health und die Folgen“, erschienen im Campus-Verlag/Frankfurt – New York. Der Soziologe und Gesundheitsökonom ist als Senior Consultant für ECC Online Relations tätig und beschäftigt sich seit mehr als acht Jahren mit dem Spannungsfeld zwischen Gesundheitswesen und Internet. Zur Zeit verbringt er einen Arbeitsaufenthalt an der Harvard School of Public Health.