Dr. Richard Barbrook lehrt an der
Westminster University in London Hypermedia Studies und ist dort Leiter des
Hypermedia Research Centres. Der Autor der Medienbuch-Klassiker ‘Media Freedom’ und ‘The Californian Ideology’ ist einer der führenden Kritiker des neoliberalen Wirtschaftssystem aus linkspolitischer Sicht.

Das Netz ist die Technikikone unseres Zeitalters.

Wired
, das aus Kalifornien stammende Computermagazin, prophezeit eine Form der Markwirtschaft, wie man sie sonst nur aus neo-klassischen Wirtschaftslehrbüchern kennt. Mit seinen Behauptungen hat das e-Zine globalen Bekanntheitsgrad erworben. Jeder wird in der Lage sein, im Cyberspace ohne Einschränkungen zu kaufen und zu verkaufen. Die Nationalstaaten werden den elektronischen Kommerz nicht mehr kontrollieren können, da er sich ohne Hindernisse über die Ländergrenzen hinwegsetzen kann. Das Netz wird für die ganze Welt den amerikanischen Traum vom großen Geld wahr werden lassen. Diese neoliberale Fantasie aus dem kalifornischen Hi-Tech-Paradies hat mystische Dimensionen angenommen. Durch Freigabe der angeblich natürlichen Gesetze immanent im unregulierten Kapitalismus werden die neuen Informationstechnologien zur Geburt einer neuen Rasse von “post-humans” (Post-Menschen) führen: Cyborg-Kapitalisten als Befreier vom einengenden Fleisch. Wie viktorianische Fabrikbesitzer glauben die Hi-Tech-Neoliberalen, dass ihr Selbstinteresse den Gipfel der Darwinistischen Evolution darstellt.

Die kalifornische Ideologie ist die Fantasie der ‘virtuellen Klasse’: Der Westküstenunternehmer und -pioniere, die darauf hoffen, ihren Reichtum aus dem Netz zu gewinnen. Natürlich sind auch die Europäer nicht immun gegen den Einfluss des kalifornischen Traums. Seit dem Untergang des Stalinismus haben viele Intellektuelle eine postmoderne, nihilistische Haltung angenommen, die zum Neoliberalismus keine Alternative bietet. Einige Linke gaben sich gar der masochistischen Freude hin, alle Formen technologischer Innovation als Triumph kapitalistischer Herrschaft zu erklären. Diesen Pessimisten zufolge ist das Anliegen der Arbeiterklasse im Cyberspace verloren gegangen. Jedoch ist der Hi-Tech-Neoliberalismus, der von der kalifornischen Ideologie verfochten wird, selbst ein Versuch, die Prometheusche Macht menschlicher Kreativität zu kontrollieren. Die breitere Verfügbarkeit von Kapital und Material hat, seit Verbesserung der globalen Kommunikation, und allein auf die monopolistische Kontrolle des Wohlstands basierend, die sozialen Kräfte unterlaufen. Vor allem macht die ständige technologische Innovation den Erfolg auf dem Markt zunehmend von den Fähigkeiten und dem Enthusiasmus der Arbeitnehmer abhängig. In der digitalen Wirtschaft ist somit nichts wertvoller als menschliche Genialität.

Vor über zweihundert Jahren waren die Langeweile und Disziplin des Fabrik-Systems als einzige Methode des materiellen Wachstums akzeptiert. Schließlich lebten Arbeiter unter dem Fordismus weitaus besser, als die aristokratische Schicht im Mittelalter. Als aber die Konsumgesellschaft keine Neuigkeit mehr war, fingen viele Menschen an, nach etwas zu suchen, das über das Geld hinaus ging. So fordern Arbeiternehmer seit den 60ern mehr Autonomie im Beruf und mehr Freiheit im Privatleben. Auch die Neoliberalisten haben dem traditionellen Konservatismus den Rücken gekehrt und nutzen Kommerzialisierung und Privatisierung, um jenen Aspirationen wieder Leben einzuhauchen. Zum Beispiel werden den talentierten Arbeitnehmern der Hi-Tech-Industrie Versprechen gemacht, dass auch sie die Möglichkeit haben, ihre eigene Firma zu gründen und die Unabhängigkeit, die mit dem Reichtum kommt, genießen zu können.

Der Hi-Tech-Neoliberalismus ist jedoch ein falscher Traum für die meisten Menschen. In den USA sinkt der Durchschnittslohn seit zwanzig Jahren. In der EU ist die Massenarbeitslosigkeit zum permanenten Phänomen geworden. Selbst die wenigen Glückspilze der “virtuellen Klasse” können sich nicht komplett von den sozialen und wirtschaftlichen Problemen des Spätkapitalismus abschotten, indem sie sich in ihren eingezäunten Vorstädten und ihrem verschlüsselten Cyberspace verstecken. Vor allem liefert die freie Marktwirtschaft keine Lösung zum Problem der Entfremdung vom Arbeitsplatz. Im Neoliberalismus drückt sich individuelle Autonomie nur noch durch Deals-Machen aus und nicht durch die Anfertigung nützlicher und schöner Artefakte. Die Geschichte von Computer und Hypermedia ist voller trauriger Episoden, in denen Ingeneure und Künstler ihre Kreativität an die Mühlen der Bürokratie geopfert haben. Anstelle der kalifornischen Ideologie brauchen wir heute ein fundierteres Verständnis vom Netz und seinen Auswirkungen auf die Gesellschaft. Denn anstatt technischer Ausdruck des Neoliberalismus zu sein, demonstriert die digitale Wirtschaft die Notwendigkeit der Schaffung einer neuen, auf das 21. Jahrhundert zugeschnittenen, sozialdemokratischen Ordnung.

Die Ursprünge des Internet selbst weisen auf die Märchenqualität der kalifornischen Ideologie hin. Weit davon entfernt, ein Produkt der freien Markwirtschaft zu sein, wurde das Internet als Teil eines riesigen Militärprogramms von amerikanischen Steuerzahlern finanziert, um der Bedrohung des sowjetischen Sputnik-Satelliten entgegenzutreten. Wie viele Erfindungen im Kalten Krieg hätte auch das Internet ein offizielles Geheimnis bleiben können. Als es aber an den Universitäten entwickelt wurde, eigneten sich die Akademiker und Studierenden die neue Technologie für ihre eigenen Zwecke an. Von Online-Diskussionsgruppen über elektronische Post – die beliebtesten Bestandteile des Netzes wurden von Enthusiasten entwickelt. Angezogen vom nicht-kommerziellen Ethos begannen andere, das Internet als eine neue Art von Gemeinschaftsmedium weiter auszubauen. Selbst heutzutage wird über die Hälfte des Materials im Internet von Amateuren bereitgestellt. Und obwohl die kommerziellen Unternehmer einen Großteil der Hardware entwickelt haben, waren sie die letzten, die das große Potential des Netzes erkannten. Der Grund dafür, dass Microsoft und andere Firmen Billionen von Dollars in das Netz investieren, liegt darin, dass sie aufholen und mithalten müssen mit der weitverbreiteten Nutzung des Netzes durch staatlich subventionierte Institutionen und der Do-it-yourself-Kultur (DIY-Kultur).

Das Netz ist nicht der Vorläufer eines globalisierten, unregulierten Marktplatzes. Im Gegenteil: Seine profane Geschichte veranschaulicht die Vermischung von staatlichen, kommerziellen und sozialen Interessen innerhalb der sich herausbildenden digitalen Wirtschaft. Jeder Bereich will eine Rolle spielen und keiner kann ohne den anderen existieren. Zum Beispiel ist staatliche Intervention notwendig, um den Bau eines Breitband-Netzwerkes sicherzustellen, das alle Haushalte und Geschäfte verbindet. Überließe man dies unregulierten Wirtschaftskräften, würde der universelle Zugang zu den neuen Informationsangeboten nur sehr langsam zustande kommen. Auch kann das kommerzielle Potential des Netzes nur dann voll realisiert werden, wenn ein faseroptisches System bevölkerungsumspannend aufgebaut wird. Wie auch im Falle früherer Dienstleistungen werden profitable Online-Geschäfte nur durch staatliche Regulierung – oder gar staatlichen Besitz der digitalen Infrastruktur – florieren.

Darüber hinaus ist auch die Weiterentwicklung der DIY-Kultur notwendig. Wie die Geschichte des Netzes demonstriert, haben Hacking, Piraterie, Shareware und Open-Source-Systeme geholfen, die Einschränkungen von staatlichen und kommerziellen Interessen zu überwinden. Ob nun aus politischen oder profitorientierten Gründen – große Institutionen versuchen immer noch, ihre Eigentumskontrollen auf den Cyberspace zu übertragen. Dabei ist eines der Hauptanziehungspunkte des Netzes für die Benutzer, dass sie nicht streng kontrolliert werden von irgendwelcher öffentlichen oder privaten Bürokratie. Schon jetzt kann ein Teil der Bevölkerung das Netz zur Information, Bildung und Freizeit außerhalb der Einflusssphäre von Staat und Wirtschaft nutzen. Sobald das Breitband-Netzwerk steht, wird jeder die Möglichkeit haben, bei der Hi-Tech-Geschenkwirtschaft (hi-tech gift economy) mitzumachen. Viele der derzeitigen Netzbesucher laden sich nicht nur einfach Produkte anderer herunter. Sie wollen sich auch selber ausdrücken, zum Beispiel durch eine Homepage oder per Online-Konferenz. Im Gegensatz zu den traditionellen Medien ist das Netz nicht eine Vorstellung des passiven Konsums, sondern eine partizipative Aktivität.

Ironischerweise ist die DIY-Kultur auch eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Entwicklung eines erfolgreichen kommerziellen Sektors im Netz. Indem die Hi-Tech-Geschenkwirtschaft den Menschen ermöglicht, sich die Grundlagen des Hypermedia-Handwerks anzueignen, trägt sie dazu bei, eine bewanderte und innovative digitale Arbeiterschaft hervorzubringen. Allerdings ist es sehr schwierig, das Managementsystem der traditionellen Fabrikhalle auf die neuen Arbeiter und Arbeitsweisen zu übertragen. Die rapide Verbreitung von PCs und nun dem Internet ist Ausdruck des Wunsches vieler Menschen, den kleinlichen Kontrollen des Geschäfts oder Büros zu entkommen. Trotz der Unsicherheit von Kurzzeitarbeitsverträgen wollen sie die Unabhängigkeit des Handwerkerberufs, die im Prozess der Industrialisierung verloren ging, wiedererlangen. Wegen der rasanten technologischen Innovation sind die Facharbeiter der Hypermedia- und Computerindustrie prädestiniert dafür, ihre Ansprüche auf Autonomie zu behaupten.

Während die Neoliberalen nur den Erfolg für Wenige versprechen können, bietet das Wiederaufleben von handwerklichen Methoden eine Arbeitsweise, die die meisten kreativen Arbeiter auch innerhalb des kommerziellen Sektors übernehmen können. Schon jetzt sind die digitalen Handwerker dabei, die kulturellen und technischen Grenzen der Hyper-Medien so weit wie möglich auszudehnen. Entscheidend ist dabei, dass ihre Artefakte im Netz leicht reproduziert und vertrieben werden können. Zum ersten Mal können Handwerker auch Vorteile aus der ‚Economy of Scale’ ziehen, etwas, was bis jetzt immer nur den Fabrikbesitzern vorbehalten war. Die momentane Wiederbelebung des Handwerkertums ist daher weit davon entfernt, in seine low-tech Vergangenheit zurückzufallen; vielmehr steht es für die ‚cutting edge’ in der Entwicklung des Postfordismus.

Die Evolution des Kapitalismus spiegelt sich im Prozess des technologischen Fortschritts wieder. Während klassischer Liberalismus von Kohle und Metall abhängig war, produzierte der Fordismus elektromagnetische, sowie chemische Technologien. Am Ende des 20. Jahrhunderts wird nun behauptet, dass das Netz ein neues wirtschaftliches Paradigma erzeugt. Den Nutzen dieser neuen innovativen Technologie kann man aber nur voll ausschöpfen, wenn man auch die Arbeitsweise umstellt. Der Fordismus war nicht nur von der Erfindung des Motors und anderen Massengütern abhängig. Vor allem die Methode der Fließbandarbeit in der Produktion war für die Entstehung dieser Form des Kapitalismus grundlegend. Sogar die kalifornischen Ideologen vertreten die Ansicht, dass die Expansion des Netzes von der Unterordnung oder der Anpassung der Arbeiter durch unregulierte Märkte abhängt. Trotz ihres offenkundigen technologischen Determinismus akzeptieren sie vorbehaltlos, dass die Organisation der Arbeiterschaft im Zentrum der digitalen Wirtschaft steht.

In der Praxis verhindert der Hi-Tech-Neoliberalismus jedoch die Entwicklung einer gedeihenden digitalen Wirtschaft. Zum Beispiel kann nur eine kleine Minderheit das Glück haben, zur virtuellen Klasse zu gehören. Das kreative Potential der meisten Macher von Hypermedien wird immer noch durch die Produktionsmethoden des Fordismus eingeschränkt sein. Das ist der Grund, weswegen wir uns nicht von den einfach gestrickten Slogans aus Kalifornien einschüchtern lassen sollten. Stattdessen müssen wir versuchen, die Komplexität der Mischwirtschaft, die dem Postfordismus entspringt, zu begreifen. Vor allem müssen wir erkennen, dass menschliche Genialität die wichtigste Eigenschaft der sich herausbildenden digitalen Wirtschaft ist. Der Staat, kommerzielle Unternehmen und die DIY-Kultur haben dabei alle unterschiedliche Methoden, den Prometheuschen Geist menschlicher Kreativität freizusetzen. Unter dem Fordismus wurde der Fabrikarbeiter zu einer heroischen Figur, zur Verkörperung der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. In der gegenwärtigen Gesellschaft hat der digitale Handwerker diese Rolle übernommen. Ob sie in der öffentlichen, Geld- oder Geschenkwirtschaft produktiv sind – digitale Handwerker repräsentieren die Zukunft, die um fachliche, kreative und autonome Arbeit kreist. Das Versprechen der digitalen Wirtschaft liegt nicht nur im praktischen Potential der neuen Informationstechnologien, sondern – viel wichtiger – in der Entstehung eines neuen Typus des Arbeiters. Deswegen sind die digitalen Handwerker die Pioniere einer, auf das 21. Jahrhundert zugeschnittenen, Sozialdemokratie.

Erschienen am 03.01.2002

Ins Deutsche übersetzt von
Ines Robbers