Online wählen und per Mausklick
Debatten führen? Das Internet verändert die Politik ­ aber es
macht sie nicht demokratischer. Stattdessen drohen
Schmutzkampagnen und Pseudo-Kommunikation

Einige erwarten Aufklärung und Erziehung, andere dagegen
Pornografie und Glücksspiel ­ das Internet sorgt für
Kontroversen. Nur wenn es um dessen Einfluss auf demokratische
Prozesse geht, sind die Antworten einhellig: Das Internet ist
gut für die Demokratie. Es erschafft "digitale Bürger" ("Wired"
1997), die aktiv in einer "vibrierenden Teledemokratie", einer
"Elektronischen Republik", in der "Digitalen Nation" mitmachen.
So schreiben es namhafte Wissenschaftler.

Dabei werden folgende Gründe genannt:

 

  1. Das Internet erleichtert politische Beteiligung;
  2. es stärkt den politischen Dialog;
  3. es schafft Gemeinschaft;
  4. es kann nicht von der Regierung kontrolliert werden;
  5. es hebt die Wahlbeteiligung,
  6. es ermöglicht besseren Kontakt zu Politikern;
  7. es verbreitet die Demokratie weltweit.

Diese fragwürdigen Thesen werden nicht nur von Industrie und
Medien verfochten, sondern auch von einer großen Koalition
selbst ernannter Zukunfts-Politiker, von Gore bis Gingrich, von
Bangemann bis Blair. Im Gegensatz dazu glaube ich: Das Internet
hilft der Demokratie nicht, sondern gefährdet sie.

1. Das Internet verteuert Politik und erschwert den Zugang

Die Hoffnung bestand darin, die Online-Öffentlichkeit werde
eine elektronische Ausgabe der Schweizer Kantonversammlungen
sein, offen und fortdauernd. Stimmt das tatsächlich? Das
künftige Internet mit Breitband-Technologie wird aufwendige
Videos und multimediale Nachrichten bieten. Die Erwartungen
werden unwillkürlich steigen. Wenn jeder etwas sagen kann, wem
wird dann noch zugehört? Unmöglich jedem. Leider wird sich nicht
das wichtigste Thema durchsetzen, sondern in der Regel das am
besten produzierte, raffinierteste und am stärksten beworbene.
Und das ist teuer.
Zudem benötigt effektive Politik im Internet aufwendige und
kostenintensive Datenbanken. Denn im Gegensatz zu traditionellen
Massenmedien wenden sich Online-Medien an ausgesuchte
Individuen. Statt TV-Spots für alle wird die Netzpolitik für
Einzelne maßgeschneidert. Dafür werden detaillierte
Informationen über Interessen und Vorlieben der potenziellen
Wähler gebraucht. Datenbanken werden zum Schlüssel politischer
Arbeit. Wenn Parteien aber Informationen über die Ansichten,
Ängste und Gewohnheiten von Millionen Bürgern sammeln, entsteht
ein Problem für den Datenschutz.

2. Das Internet erschwert den vernünftigen und kenntnisreichen
politischen Dialog

Nur weil die Quantität der Informationen zunimmt, heißt das
nicht, dass auch ihre Qualität steigt. Im Gegenteil. Weil das
Internet zu einer Informationsflut führt, muss jede Botschaft
noch lauter angepriesen werden. Politische Information wird
schrill, verzerrt, vereinfacht.
Das Internet steht nicht zwischen Geschäft und Politik, es ist
Teil von beidem. Es höhlt die Methoden der traditionellen Medien
aus: Der notwendigerweise beschleunigte Nachrichten-Kreislauf
führt zur weniger sorgsamen Überprüfung der Nachrichten, während
der Wettbewerb zu mehr Sensationsmache führt. Das Ergebnis:
Medien-Events, Sound-Schnipsel, Infotainment.
Zudem erlaubt das Internet Anonymität. Die Folge sind Gerüchte
und politische Attacken aus dem Hinterhalt. Das Internet lässt
sich eher für politische Schlammschlachten gebrauchen als das
stärker berechenbare Fernsehen.

3. Das Internet trennt genauso, wie es verbindet
Demokratie beruht seit jeher auf Gemeinschaft ­ in klar
umgrenzten Gebieten wie Wahlbezirken, Städten und Staaten.
Ändert sich die Kommunikation, berührt das die Gemeinschaft:
Während das Internet mit neuen und weit entfernten Menschen
verbindet, verringert es gleichzeitig die Beziehung zu den
Nachbarn.
Der langfristige Einfluss billiger und bequemer Kommunikation
bedeutet eine Zersplitterung der Bevölkerung, also eine größere
Isolation. Gleichzeitig führt der enorme Anstieg der
Informations-Kanäle zu individualisierten Massenmedien.
Kritiker, die Fernsehen nur als Programm mit dem kleinsten
gemeinsamen Nenner sahen, blicken inzwischen nostalgisch auf den
"elektronischen Kamin", um den sich die Gesellschaft schart. Sie
vermissen die integrative Rolle.
Das Internet wird neue Arten elektronisch verknüpfter
Gemeinschaften schaffen. Aber sie unterscheiden sich von den
früheren Gemeinschaften, in denen sich Menschen aus allen
Schichten trafen ­ vom Metzger bis zum Kerzenmacher. Stattdessen
entstehen neue Öffentlichkeiten, die anhand gemeinsamer
Interessen wie Wirtschaft, Politik oder Hobbys entstehen. Diese
Gruppen werden da-zu tendieren, themenbezogen, beschränkter und
manchmal extremer zu sein, weil Gleichgesinnte ihre Ansichten
gegenseitig verstärken.
Zudem werden viele dieser communities in Privatbesitz sein,
ähnlich einem Einkaufszentrum: mit dem Recht jemanden
hinauszuwerfen, zu fördern, zu zensieren. Es war vielleicht das
größte Ziel von Internet-Portalen wie AOL, eigene virtuelle
Gemeinschaften zu schaffen. Diesen Wert werden sie wohl kaum für
einen demokratischen Prozess preisgeben.

4. Information schwächt den Staat nicht unbedingt

Kann das Internet Diktaturen schwächen? Natürlich. Tyrannei
und Meinungskontrolle werden schwieriger. Aber
Internet-Romantiker unterschätzen gerne die Fähigkeit von
Regierungen, das Internet einzuschränken und es als
Überwachungs-Instrument zu nutzen. Wie schnell wir doch
vergessen: Nur einige Jahre zuvor hatte die
Informa-tions-Technologie das Image des big brother. Das war
natürlich übertrieben, aber das Überwachungs-Potenzial ist keine
Romanfiktion. So genannte cookies können den Computer-Gebrauch
überwachen. Bei kabellosen Geräten kann der Aufenthaltsort des
Benutzers bestimmt werden.
Bürgerkriegs-Situationen beruhen normalerweise nicht auf einem
Mangel an Information. Trotzdem besteht der unsterbliche Glaube
weiter, Information schaffe Toleranz. Hitler kam in einer
Republik an die Macht, in der politische Information und
Kommunikation im Überfluss vorhanden waren.

5. Elektronisches Wählen stärkt nicht die Demokratie

Elektronisches Wählen ist nicht einfach die übliche Wahl ohne
unbequemes Warten. Wenn die Wahl so funktioniert wie eine
Fernbedienung, bleibt wenig vom bürgerlichen Engagement der
Wahl. Wenn sie von einer Umfrage nicht mehr zu unterscheiden
ist, verschwimmen die Grenzen von Wahl und Umfrage. Erfahren die
Wähler die Ergebnisse zu früh, wird die ganze Abstimmung in
Frage gestellt und die Beteiligung wird erneut sinken.

6. Direkter Zugang zu Politikern ist ein Schwindel

Ja, jeder kann E-Mails an Politiker abfeuern und bekommt
vielleicht sogar eine Antwort. Aber eine beschränkte Ressource
wird weiterhin knapp sein: die Aufmerksamkeit dieser Politiker.
Notwendigerweise werden nur wenige Mails durchkommen. Die
Antworten sind gespeichert, wie bei Anrufbeantwortern. Während
die Nachfrage steigt und das Angebot stagniert, wird der Preis
für den Zugang zur Macht steigen. Das hilft dem demokratischen
Prozess nicht.

7. Die Politik eines Staates kann international manipuliert werden

Warum mit einem US-Botschafter verhandeln, wenn man sich auf
den entscheidenden Kongressabgeordneten direkt einschießen kann:
durch E-Mail-Kampagnen, Einsprüche in so genannten Chat- Groups,
Fehlinformation. Es wird zunehmend schwerer, in einer
globalisierten Welt Politik für eine Nation zu machen. Die
Schwierigkeit einer Gesellschaft, die eigenen Angelegenheiten zu
kontrollieren, führt unweigerlich zu mehr Eingriffen.
Das Internet kann schwer zugängliche Gruppen erreichen und hat
bereits eine Menge Energie und Kreativität freigesetzt. Aber es
wäre naiv, am Image des frühen Internets festzuhalten ­
unkommerziell, kooperativ, frei ­ und zu ignorieren, dass es zum
kommerziellen Medium wird.
Wenn überhaupt, führt das Internet zu weniger Stabilität,
größerer Vereinzelung und geringerer Möglichkeit für einen
breiten Konsens. Es ist ein aufregendes Instrument. Aber
befreiend? Wir können die Probleme nicht erkennen, wenn wir
weiterhin die virtuelle rosa Brille aufsetzen. Und denken, wir
seien einen analogen Schritt weiter zu einem besseren
politischen System, wenn wir alles in 1 und 0 ausdrücken.

ELI M. NOAM (52) ist Gründer des Columbia Institute for Tele-Information, New York, und lehrt dort als Professor für Finanzen
und Wirtschaft. Der Internet-Experte, dessen Text auf einem
Vortrag am Nixdorf Computer Museum basiert, veröffentlichte
zahlreiche Bücher, darunter "Telecommunications in Europe"